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Das Kino ist mehr als eine Geschichte

8.2.2007
Das Kino ist mehr als eine Geschichte

Fassbinders Filmepos „Berlin Alexanderplatz“, das in den 80er Jahre Zuschauerprotestströme erregte, ist auf der Berlinale erstmals in restaurierter Fassung zu sehen – eine „Alexanderplatz“-Hommage und eine Liebeserklärung an das experimentelle Kino

Tom Tykwer

 


Der Antifernsehfilm

„Dies zu betrachten und zu hören wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und denen es passiert wie diesem Franz Biberkopf, nämlich vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot“ (Alfred Döblin, Vorrede zu „Berlin Alexanderplatz“).

Nun gilt es also wieder zu denken, zu sprechen und zu schreiben über jenen fünfzehnstündigen Film, der zum Auftakt der achtziger Jahre (jenes Jahrzehnts, welches später dem Kalten Krieg ein Ende und dem Kapital ein Comeback bereiten sollte) die deutsche Volksseele erzürnte, der zu Sturmläufen der Boulevardpresse und (in der Folge davon) Protesten von „Millionen Fernsehzuschauern“, die sich „um ihre Gebühr betrogen“ („Bild“-Zeitung) fühlten, Anlass bot.

Der öffentliche Widerstand gegen dieses Werk, an den sich jeder erinnert, der zu dieser Zeit in Deutschland weilte – und viele erinnern sich sogar mehr an die Empörung als an den Film selbst -, richtete sich mit Inbrunst gegen die Fernsehanstalten, die Filmemacher, das Ensemble und, vor allem, natürlich gegen den Regisseur Rainer Werner Fassbinder. Wenn auch die angebliche Unzumutbarkeit in technischen Belangen (dem Film wurden erhebliche Mängel in der Bild- und Tonqualität vorgeworfen) mit Vehemenz in den Vordergrund gerückt wurde, so schienen derlei Probleme dem Sturm der Entrüstung kaum angemessen zu sein. Irgendwie wirkte er nachhaltiger, der Schmerz dieses Films, und mit jeder weiteren Episode, die damals Woche um Woche gesendet wurde, schien sich ein schmutziger Dorn tiefer und tiefer in die Wunde dieser Republik zu bohren, eines Landes, das sich ohnehin nicht wohl fühlte in seiner Haut und konsequenterweise bald darauf in eine kulturelle und politische Narkose verfallen sollte (1982 starb Fassbinder, Kohl wurde Kanzler). Zu dieser Zeit hatte Deutschland keine Lust auf den gemächlich zelebrierten Exzess dieses Films, seine tänzelnde Obszönität und furchtlose Drastik, die auch ein deutscher Abgesang war – und erst recht nicht, da all diese Elemente seltsam frei schwebend und sozusagen kommentarlos, immer nur fragend, aber nie antwortend, also den öffentlich-rechtlichen Vermittlungsauftrag ignorierend, durch dreizehn lange Fernsehwochen mäanderten.

Wenn man – trotz des damals beträchtlichen Aufwands – die beinahe uneingeschränkte Freiheit sieht, mit der Fassbinder dieses äußerst introspektive, schwer zugängliche Filmkonzept realisieren konnte, wirft das wiederum ein Licht auf die Ausnahmeposition, die er als Filmemacher zu jenem Zeitpunkt innehatte. Gerade erst vierunddreißig Jahre alt, hatte er bereits rund vierzig Filme und, ganz aktuell, seinen bislang größten Kassenerfolg (“Die Ehe der Maria Braun“) hinter sich. Dementsprechend ist „Berlin Alexanderplatz“ keinerlei Schere im Kopf anzumerken, es ist einer dieser Filme, wie vielleicht nur „Out 1“ von Jacques Rivette noch einer ist, die sich völlig abwenden von traditionellen erzählökonomischen Verabredungen – und sich gleichzeitig, scheinbar paradox, dem Narrativen verpflichtet fühlen, es immer wieder hereinholen, manchmal geradezu zwanghaft konservativ, um es dann gleich wieder mit wahrer Wonne zu zersetzen. Ein Film, der sich auf sein Thema, eine Geschichte mitten aus dem Alltag, stürzt, sie ihrer greifbaren, der Realität zugewandten Prägung sukzessive entreißt und mit ganz intimem, fast privatem Blick seziert, ausbreitet, sie auch und vor allem in die Zeit hinaus spinnt, sie quasi so ausdehnt, bis in dieser auseinandergedehnten Zeit Zwischenräume aufreißen; und in diese Risse in der weit gestreckten Zeit will Fassbinder blicken, sie weiter aufreißen, tiefer schauen, bis die Zeit nicht weiter dehnbar scheint – und ganz zerreißt.

Dann folgt nur noch ein Epilog, ein Schlussakkord mitten im Schwarzen Loch dieses Zeitrisses.

„Berlin Alexanderplatz“, dieser dreizehnteilige Film zuzüglich eben eines „Epilogs“, ist also niemals wirklich ein Fernsehfilm gewesen. Es ist ein narrativer Experimentalfilm, der, mit unterschiedlichen theatralen Prinzipien jonglierend, ein Schlupfloch sucht zwischen Tradition und Avantgarde.

Auch visuell scheinen sich Fassbinder und sein Kameramann Xaver Schwarzenberger dem Medium geradezu verweigert zu haben: zu provokant erscheint ihre vereinte Missachtung des sicherlich alarmschlagenden Belichtungsmessers. So versanken die offensichtlich für die große Leinwand und eine empfindliche Filmemulsion komponierten Nachtbilder damals auf den meisten deutschen Telefunken-Monitoren in ein flaues, flaches Grauschwarz.

Der Film schien fortan geächtet als „unsendbar“, „unzeigbar“ gar – bis sich auf Festivals und in einzelnen Kinos Widerstand regte und nach dem Tod Fassbinders jahrelang einige zunehmend zerkratzte 16-mm-Kopien durch die Sputniks und Filmmuseen dieser Welt tingelten, bis auch diese nicht mehr ansehbar waren.

Jetzt hat Juliane Lorenz mit ihrer Fassbinder Foundation eine Reihe von Kultur- und Filmförderungen sowie filmtechnischen Betrieben überzeugt, unter Schwarzenbergers Leitung in mühevoller Kleinarbeit das Negativ dieses Films zu restaurieren, den ursprünglich auf 16 mm gedrehten Film auf 35 mm aufzublasen und, vor allem, eine neue Licht- und Farbkorrektur zu wagen, was angesichts der Techniken, die inzwischen zur Verfügung stehen, ein vielversprechendes Unterfangen darstellt. Und tatsächlich: Das sagenumwobene „Dunkelheitsproblem“ ist quasi verschwunden, bis auf wenige Einstellungen konnte man selbst in den monochromen Nachtgemälden die Kontraste so herausarbeiten, dass sich stets ein schlüssiges Bild ergibt – und kein Suchbild. In dieser Form war die filigrane kompositorische Stilistik von „Berlin Alexanderplatz“ nie zu sehen und nicht einmal zu erahnen. Zugleich hat Schwarzenberger darauf geachtet, die Qualität des Nachtkammerspiels nicht zu verlieren, denn die Enge, die die Bilder in ihrer leicht weichgezeichneten Finsternis beschwören, das ist die Enge einer Welt, die den Franz Biberkopf permanent zu zermalmen droht.

II 
Die Geschichte

„Man muss Geschichten hören. Es ist angenehm und macht einen manchmal besser“ („Mahabharata“, indisches Epos).

Franz Biberkopf (Günter Lamprecht) wird aus dem Gefängnis entlassen, wo er vier Jahre wegen Totschlags an seiner Geliebten abgesessen hat. Er wird ausgespuckt in das rauhe, unter schleichend wachsender Armut leidende Berlin der späten zwanziger Jahre und versucht, wieder Fuß zu fassen, was ihm mehr schlecht als recht gelingt. Er lernt mehrere Frauen kennen, mit denen er kurze oder auch längere Zeiten verbringt, aber erst als er Mieze (Barbara Sukowa) begegnet, glaubt er, die Richtige gefunden zu haben. Er pflegt diverse enge und losere Freundschaften zu verschiedenen Männern, unter ihnen Reinhold (Gottfried John). Die Gefühle zwischen Franz und Reinhold sind stärker, als sie beide nachvollziehen können, und so entwickelt diese Verstrickung eine Eigendynamik, die Franz zum Verhängnis wird.

Zu Beginn der Geschichte schwört Franz noch, von nun an „eine ehrliche Haut zu werden“, doch das Schicksal wirft ihn ein ums andere Mal zurück, bis es ihm schließlich mit solcher Härte zusetzt, dass sein eiserner Wille bricht und er am Ende, aller Hoffnung auf das sogenannte Glück beraubt, allein und gebrochen zurückbleibt.

III 
Nicht die Geschichte

„Das Wesentliche an ,Berlin Alexanderplatz‘ ist also nicht seine Geschichte, das hat dieser Roman mit einigen anderen großen Romanen der Weltliteratur gemein, seine Konstruktion ist womöglich noch lächerlicher als die von Goethes ,Wahlverwandtschaften‘, das Wesentliche ist ganz einfach, wie das ungeheuerlich Banale und Unglaubwürdige an Handlung erzählt wird. Und mit welcher Haltung zu den Figuren des Geschehens, die der Autor dem Leser trist entblößt, während er ihn andererseits lernen lässt, eben diese bis zur Mittelmäßigkeit entblößten mit allergrößter Zärtlichkeit zu sehen, sie zu lieben am Ende“ (R.W. Fassbinder, 1980).

Die Geschichte also, eigentlich der heilige Gral eines jeden Drehbuchautors und Filmemachers, ist nicht der Punkt. Damit legt Fassbinder eine Methode fest, die „Berlin Alexanderplatz“ stärker prägt als irgendein anderes seiner Werke: Es geht, bei fast stoischer Ignoranz gegenüber den Anforderungen eines plot, um das Umkreisen singulärer menschlicher Zustände, um das Eindringen in selbige und um das Hervorholen einer reflexiven (= sich auf das Subjekt rückbeziehenden) Wahrhaftigkeit, die zeigt, dass dem Menschen nichts so fremd ist wie er selbst und er deshalb auf ständiger Suche bleibt: nach sich selbst. So dienen auch die Voice-over-Kommentare, von Fassbinder selbst gesprochen, niemals als Klammern oder Verzahnungen von Handlungselementen; sie entbehren eigentlich sämtlicher narrativer Bindungsenergie. Vielmehr spitzen sie die Aufmerksamkeit auf Augenblicke zu, in denen sich ganz und gar Individuelles Bahn bricht oder in denen ein Gedanke oder Gefühl von oder zu einer Person angehalten, verlängert, verzögert werden kann. Was vorgetragen wird, sind wiederum Passagen aus dem Roman, anhand deren Fassbinder uns deutlich macht, dass auch der Roman übersät ist mit unkonventionellen prosaischen Schlenkern, die dem Leser ständig die Zerstückelung der Narration durch Fakten, Assoziationen und querschlagende Bruchstücke einer Idee demonstrieren.

Der besondere Clou in der identifikatorischen Konzeption von „Berlin Alexanderplatz“ liegt darin, dass sein Protagonist zu Beginn als recht einfältige, grobe Seele erscheint; doch im Verlauf der Erzählung erkennen wir bald, dass unsere Einschätzung den komplexen, tiefen Empfindungen, durch die Franz Biberkopf sich quälen wird, nicht angemessen ist. Was nicht bedeuten soll, dass der Biberkopf etwa nun doch nicht einfältig oder grob wäre – sondern dass ihm eben trotzdem ein „ein derartig diffenziertes Unterbewusstsein zugestanden (wird), gepaart mit einer kaum glaublichen Phantasie und Leidensfähigkeit, wie es den meisten Figuren der Weltliteratur (. . .) so weitgehend nicht gegönnt wird“ (Fassbinder).

IV 
Repetition und Dehnung

„Das Kino ist da, um uns zu zeigen, was wir ohne Kino nicht sehen würden. Um das Wort und das Bild auszudehnen. Um sichtbar zu machen, was normalerweise unsichtbar ist.“ (Jean-Claude Carrière, „Der unsichtbare Film“)

Fassbinder sucht in der Wiederholung, der Verlängerung und der Ausdehnung von Abläufen nach etwas, das er im rituellen Gestus menschlichen Verhaltens vermutet, in unserer Neigung, Dinge zur Regel zu machen, sie zu wiederholen, durch die äußere zu einer inneren Ordnung zu finden mittels organisierter Abläufe, bis diese schließlich zwanghaft anmuten.

So gesehen, ist Fassbinder ein Epigone Pina Bauschs und ein Vorläufer Christoph Marthalers, zweier Theatermacher, die im Repetieren und Ausdehnen gesellschaftlicher Gesten ein selbstzerstörerisches Suchtpotential des Menschen hin zum Rituellen offenbaren.

Seltsam an der Erfahrung, die man mit „Berlin Alexanderplatz“ macht, ist unter anderem, dass die gestreckte Zeitlichkeit keinen die Erzählung präzisierenden, sondern einen elliptischen Eindruck hinterlässt. Die Konzentration wendet sich von den Kausalketten der Geschichte streckenweise so vollständig ab, dass man beinahe die Orientierung verliert und sich fragt, ob diese Erzählung überhaupt je wieder in Gang kommen wird angesichts des ungeheuerlichen Stillstands. Besonders in der faszinierenden Episode 4 geht es zu wie zuletzt eigentlich nur in Bruno Dumonts „Twentynine Palms“. Oder vielleicht wie im ersten Akt von Richard Wagners „Parceval“.


Strukturales Volkstheater

„Was uns in ,Le jeune Werther‘ noch einmal gefällt, auch wenn wir uns manchmal fast ärgern, (. . .) ist genau die unpassende, ja sogar exotische Allianz des Natürlichen und des Künstlichen, die eine Wahrheit zum Vorschein bringt, die von der des Theaters nicht weit entfernt ist.“ (Thierry Jousse über Jacques Doillon, in: „Autorenkino und Filmschauspiel“ von Anja Streiter)

Auch Jacques Doillon, Regisseur von Filmen wie „Der junge Werther“ und „La Pirate“, ist ein Verwandter Fassbinders, der Situationen ihrer sogenannten Echtheit entreißt, um in einem alternativen, artifiziellen Spielraum nach ihrer Bedeutung zu forschen. Bei Fassbinder spielt eine gewichtige Rolle, dass in den Dehnungen und Wiederholungen nicht nur ein formales Experiment durchdekliniert wird, sondern zugleich die Figuren selbst, sobald sie sich ins Hamsterrad stellen, auch genuin menschliche Bedürfnisse befriedigen, und zwar so hehre wie primitive. Sie sind bei aller Choreographie nicht nur Spielball eines inszenatorischen Ticks, nicht die marionettenhaften Hüllen etwa eines Robert Wilson, sondern sie handeln und durchleben diese Sequenzen durchaus als psychologische Wesen, als plastische Individuen.

In der ritualisierten Romantik-Schlaufe beispielsweise, die sich zwischen Mieze und Franz entspinnt, formuliert sich für beide Charaktere der Wunsch nach infantiler, geschwisterhafter, eskapistischer Zweisamkeitsfreude so zugespitzt, wie es nur einfältig Liebende zu zelebrieren vermögen – was wiederum jedem vertraut ist, da jede Liebe ja auch einfältig ist. Um ein anders gelagertes Beispiel zu nennen: In der unendlich oft wiederholten traumatischen Mordtat Biberkopfs an Ida drückt sich die Zufälligkeit aus, mit der ungestüme Wut in blutigen Wahn umschlagen kann, und sich dabei für den Handelnden irgendwie irreal, wie ein ferngesteuerter Totentanz anfühlt.

So jedenfalls spielen es die Schauspieler. Und sie spielen nicht die geringste distanzierte Nuance mit, im Gegenteil: der schauspielerische Stil, der „Berlin Alexanderplatz“ prägt, ist (nicht immer, aber oft) deftig, extrovertiert, manchmal gar proklamatorisch – und somit offenkundig dem Volkstheater verpflichtet, wahlweise wechselnd zwischen Burleske oder Dramolett. Jene volkstheatrale Geste, welche sich schon wegen der Dialektprägung der Vorlage aufdrängte, ist für Fassbinder in vielen Arbeiten ein Werkzeug der Stilisierung gewesen. Das Volkstheater, historisch definiert durch seine Abgrenzung zum Hoftheater, hat den Filmemacher ebenso geprägt wie die Avantgarde-Bühnen der späten sechziger Jahre, und der ihm sehr eigene Stil, der aus der Fusion dieser beiden Einflüsse entstand, ist in „Berlin Alexanderplatz“ auf die Spitze und zur Perfektion getrieben worden.

VI 
Biberkopf und andere Männer

„Man könnte natürlich als Regisseur auch unheimliche Rücksicht nehmen auf den Hauptdarsteller insofern, dass man ihn, wenn er schon so eine schwere Aufgabe hat, nicht noch verrückt macht mit anderen Dingen. (. . .) Also der einzige Störfaktor, den ich hatte, war mein Regisseur, der hat mich dauernd gestört in meiner Arbeit.“ (Günter Lamprecht, 1981)

Trotzdem, oder vielleicht auch gerade deshalb: Günter Lamprecht als Franz Biberkopf, das lässt sich uneingeschränkt feststellen, ist für diesen Film die perfekte Besetzung gewesen. Und auch wenn Lamprecht noch so viel mit Fassbinder gehadert haben mag, so ist er doch ganz und gar in dessen Kosmos eingetaucht, hat sich kongenial eingefügt in das elegische Fragmentwerk dieses Drehbuchs, hat der subtilen Momentaufnahme ebenso viel Energie und Nuance geschenkt wie dem lauthals Pamphletischen. Lamprechts Biberkopf ist (wie sein Regisseur vermutlich) ein fragiler Berserker, dem die Welt zu eng, das Herz zu groß, die Leidenschaft zu schwer und der Geist zu schwach gerät und der sich offenen Auges, aber mit beschränktem Wissen in die Schreddermaschine des Schicksals fallen lässt.

Eine schauspielerische tour de force, so facettenreich wie plakativ, so laut wie leise, ist Lamprecht ein gewaltiges/gewalttätiges Kind im Körper eines Mannes – und so laufen alle thematischen Fäden des Films ganz schlüssig in seiner Figur zusammen.

Was dieser Mann alles durchmacht auf seiner Lebenstortur, das macht seinen (Irr- und Um-)Weg auch zu einer Passion, und als wäre dieser reine Tor ein verkappter Prediger, hängen sich die Apostel an seine Fersen. Sie heißen Nachum (Peter Kollek), Meck (Franz Buchrieser), Lüders (Hark Bohm), Baumann (Gerhard Zwerenz) und Reinhold (Gottfried John) – und alle benutzen sie ihn, entweder als psychische Membran für ihre Neurosen, als Patienten für ihre Heilsversprechen oder als williges Opfer für ihre ausbeuterischen Absichten. Denn Biberkopfs reine Torheit ist für all die gefallenen Engel ringsum eine Provokation und ein Versprechen zugleich, sie hoffen auf Erlösung an seiner Seite, ganz so, als könne seine Schlichtheit ihre Neurosen, ihre Verzweiflung, ihre Verletzungen heilen. Doch Biberkopf ist so schlicht dann eben doch nicht, und er will weder Membran noch Patient noch Opfer sein, und so wird die Sache dann kompliziert.

VII 
Reinhold und andere Frauen

„Dabei gibt es beileibe nichts Sexuelles zwischen Personen des gleichen Geschlechtes, Franz Biberkopf und Reinhold sind keineswegs homosexuell (. . .). Nein, das, was zwischen Franz und Reinhold ist, das ist nicht mehr und nicht weniger als eine reine, von nichts Gesellschaftlichem gefährdete Liebe.“ (R.W. Fassbinder)

Der wichtigste Mensch in Biberkopfs Leben heißt nicht Mieze, nicht Eva (Hanna Schygulla), nicht Lina (Elisabeth Trissenaar), sondern er heißt Reinhold und ist also ein Mann. Von dieser Freundschaft geht eine verhängnisvolle Strahlung aus, ein Magnetismus, der fatale Folgen für beide hat und der in den über zehn Stunden, die Reinhold im Film präsent ist, nie ganz nachvollziehbar erscheint, sondern letztlich unerklärt bleibt. Es ist einfach so, Franz liebt Reinhold, ganz gleich wie dieser ihm zusetzt, und Reinhold liebt wohl auch den Franz und ist davon überfordert. So entsteht eine zerstörerische Abwärtsspirale, an deren Ende, in einer unendlichen einzigen Einstellung, der Verführungsversuch Reinholds an Mieze in ihre Ermordung mündet.

Die Frauen in Biberkopfs Leben beherrschen hingegen seinen Alltag, sie sind die Signaturen (und tragen die Blessuren) seiner verschiedenen Lebensabschnitte, sie wechseln sich ab wie im Staffellauf, mit Ausnahme von Eva, sie lassen sich leicht verführen, aber dann kommt ihnen die Liebe in die Quere. Biberkopf schenkt jeder von ihnen Zuneigung und Schutz, nicht aber sein Herz. Das erobert erst die Mieze, die ihm fast familiär vertraut erscheint in ihrer kindhaften, dem Frohsinn zugeneigten Natur. In Mieze kann Franz sich ganz naiv spiegeln, die beiden benehmen sich bald geheimverspielt wie Cocteaus „schreckliche Kinder“, und wenn da nicht Reinhold wäre, hätte Franz vielleicht sein Glück mit Mieze gefunden.

VIII 
Rainer Werner Biberkopf

„(. . .) Mein Leben, gewiss nicht im Ganzen, aber doch in einigem, manchem, vielleicht Entscheidenderem, als ich es bis heute zu überblicken vermag, wäre anders verlaufen, als es mit Döblins ,Berlin Alexanderplatz‘ im Kopf, im Fleisch, im Körper als Ganzes und in der Seele, lächeln Sie meinetwegen, verlaufen ist.“ (R.W. Fassbinder, 1980)

Gewiss kann fast jeder, der ab und zu oder auch öfter ein Buch liest, einen Lieblingshelden oder eine Lieblingsheldin nennen, eine literarische Figur, auf die sich identifikatorische Projektionen richten, Prosagestalten, denen man sich verwandt und in denen man sich gar verkörpert fühlt, und das eigene inselhafte Leben dadurch weniger einsam, ein bisschen beschützt erscheint.

Dass diese Romanfigur für Fassbinder der Franz Biberkopf war, ist in seinem Gesamtwerk unübersehbar; immer wieder tauchen Elemente oder direkte Zitate aus „Berlin Alexanderplatz“ in seinen früheren Arbeiten auf, und letztlich erscheint die döblinsche Sicht auf destruktive und zugleich sehnsuchtsvolle, empfindsame Männer wie eine Blaupause für die tragischen Helden aus Fassbinders OEuvre. Selbstverständlich ist es ebenso eine direkte Reflexion von Fassbinders eigenem, emotional chaotischen Lebenslauf mitsamt all seiner komplizierten polygamen Bindungsdynamik. Die auffälligsten Vorab-Entwürfe eines Biberkopfs finden sich wahrscheinlich in „In einem Jahr mit 13 Monden“ (1979) und dem „Faustrecht der Freiheit“ (seinem etwas unterbewerteten Meisterwerk aus dem Jahre 1975), wo die von Fassbinder selbst dargestellte Figur gar Franz Biberkopf heißt.

„Was soll einem Wesen, das so erzogen wurde wie wir, oder ähnlich, eine Liebe bedeuten, die zu keinen sichtbaren Ergebnissen führt, zu nichts, das vorzeigbar, ausbeutbar, also nützlich wäre?“ (Fassbinder)

Franz‘ Liebe zu Reinhold ist nicht nur ihm selbst, sondern auch uns rätselhaft – und doch wissen wir, wovon die Rede ist. Der Film rührt hier an ein kollektives Geheimwissen, welches uns, rumorend im Unterbewussten, an manch seltsamem Abend unseres Lebens ein verwirrendes Gefühl tiefster Zärtlichkeit zu einer Person vergegenwärtigt, von der wir nicht mal wirklich dachten, dass sie eine große Rolle spielt in unserem Leben.


Legato/Staccato

„Gute Nahaufnahmen üben eine lyrische Wirkung aus. Sie wurden ,gesehen‘ nicht vom guten Auge, sondern vom guten Herzen.“ (Béla Balázs)

„Berlin Alexanderplatz“ ist über weite Strecken ein Film der langen Einstellungen, der Plansequenzen, manches Mal vergehen Minuten ohne Schnitt, das heißt der Schnitt findet quasi in der Kamera statt, durch Positionsveränderungen mit Dolly und Cadragewechsel per Zoom. Der

„Close-up“ zum Beispiel, er wird häufig nicht als Antwort auf eine Totale oder als Folge eines Gegenschusses eingesetzt, sondern er wird von der Kamera gesucht, sie gleitet still heran an die Figuren, vor allem an Biberkopf, und die Figuren tanzen ihren markierten Positionen entgegen, wie in Zeitlupe, bis schließlich Linse und Objekt in einer Nahaufnahme zueinanderfinden.

Der erreichte Zielort, das ist oft ein Bild der Begrenzung, denn immer wieder findet Xaver Schwarzenbergers Kamera Fensterstreben, Gitterstäbe, Holzbalken, die die Rahmung des Bildes verengen, wie ein Passepartout, ein Rahmen im Rahmen, der das Personal einklemmt und festhält wie Häftlinge eines Bildes. Oder wie der stets präsente Wellensittich im Vogelkäfig.

Irgendwann am Ende jeder Plansequenz allerdings muss er dann erfolgen, der Schnitt, und jedes Mal muss es eine große Herausforderung gewesen sein, den exakt richtigen Moment zu finden, mal wie ein Bruch, mal wie im Fluss, und manchmal verflüchtigt sich das Bild in einer Abblende.

Dann, immer wieder, insbesondere auch im Epilog, konterkariert die Cutterin Juliane Lorenz diese Methode durch schnelle, aggressive, assoziative Montagestrecken – und im Kontrast dieser dynamischen Gegenpole entsteht der verstörende Rhythmus dieses Films, der, omnipräsent und mit beschwörender Insistenz untermalt von Peer Rabens Musik, unberechenbar und sprunghaft zwischen Elegie und Adrenalin hin- und herpendelt – was einerseits wohl ein Versuch ist, der subjektiv variierenden Zeitwahrnehmung Biberkopfs gerecht zu werden und andererseits die fieberwahnhafte Energie von Döblins Prosa einzufangen.


Gelächter im Dunkel

„Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man.“ (Friedrich Nietzsche)

Und der Biberkopf sich selbst.

Im Lachen, das manchmal wie eine Maschinengewehrsalve aus Biberkopf hervorprescht und dann nicht mehr aufzuhören scheint, ihn zur Fratze entstellt, ihn als einen zeigt, der sein Versagen mit der dröhnenden Geste des Gewinners bezwingt und bändigt, in diesem Lachen, das niemals ein reines, leichtes Lachen ist, sondern immer ein gebrülltes, gefordertes, ersehntes – da liegt Biberkopfs Angst bloß. Das Lachen ist Franz‘ Waffe, mit welcher die Panik, der Zweifel und die Sorge in Schach gehalten werden.

Am Ende wird das Lachen zum Schrei, zum nicht enden wollenden Schrei eines Mannes, den das Leben nicht erlösen will von seiner Schuld, seiner Unschuld, seiner Verfehlung.

Epilog 
Wir verstehen ihn nicht, den Biberkopf, und doch wissen wir, was er tut, und wir ahnen, warum. Das ist das Dilemma des Zuschauers in „Berlin Alexanderplatz“, er wird schlau draus und auch wieder nicht, und er ist manchmal wütend, so allein gelassen zu werden von einem Film, der ihm nicht helfen will, den Franz Biberkopf und seine Gefühlswelt zu entschlüsseln, und dem es doch zugleich gelingt, gerade durch seinen Verzicht im Interpretativen, dafür aber im Insistieren aufs Beobachten eine Nähe zu dieser Filmfigur zu erzeugen. Eine Nähe, die selbst für Fassbinders Kino außergewöhnlich ist.

Die Art und Weise, wie man Filme sieht und wie sie auf uns einwirken, verändert sich über die Jahre, so wie man sich selbst als Person verändert; ein Eindruck, den jeder kennt.

Früher konnte ich mühelos tagelang hintereinander im Kino sitzen und einen Film nach dem anderen sehen, völlig skrupellos zwischen den Genres springen, von Tarkowskij zu Spielberg, von Bergman zu Hitchcock. Es gab ein scheinbar grenzenloses Reservoir an Zeit und Geduld, und ich empfand stets verspielte Offenheit, niemals aber Überforderung angesichts der vielen unterschiedlichen emotionalen Strapazen, denen man sich im Kino im Laufe eines Tages so aussetzen kann. Die Affekte, sie wirkten ein und verteilten sich eher diffus und unreflektiert im Erinnerungskosmos.

Wenn ich dagegen heute, zum Beispiel, einen (zugegeben: Ausnahme-)Film wie „United 93“ sehe, oder besser: durchstehe, dann erscheint es mir, auch physisch, völlig unmöglich, ansatzlos zum nächsten kinematographischen Eindruck überzugehen, mich nahtlos auf eine andere Geschichte, einen anderen Rhythmus, eine andere Atmosphäre und den dabei entstehenden Erfahrungsraum einzulassen. Die Halbwertzeit eines intensiven filmischen Erlebnisses hat sich also deutlich verlangsamt, oder anders: ein Film findet, potentiell, mehr Widerhall in der eigenen Geschichte, in den persönlichen Resonanzzonen des Gedächtnisses.

Ich sitze also nach einem solchen affektintensiven Film da und vibriere. Dann brauche ich Zeit und auch die Möglichkeit zum Austausch, um das virtuell Durchlebte zu verarbeiten.

Die fünfzehn Stunden „Berlin Alexanderplatz Remastered“ habe ich – 26 Jahre nach dem ersten Mal – im Januar 2007 innerhalb von zwei Tagen in einem kleinen, gemütlichen Kinosaal wiedergesehen. Man kann sagen, dass ich sehr aufgeregt war und voller Vorfreude auf die zwar anspruchsvolle, aber auch luxuriöse Aufgabe, nach einer exklusiven Vorführung einen exklusiven Text zu schreiben. Und ich muss gestehen, dass es dann streckenweise überraschend harte Arbeit war.

Der Film ist nämlich nicht einfach nur lang, er ist vor allem, wie Sie dem Obigen entnehmen können, einer Erzählmethode verpflichtet, die den Zuschauer einerseits von sich wegstößt und ihn sich zugleich einverleibt, ihn mit in den verlangsamten, asthmatischen Raum seiner Geschichte zieht. Man möchte fast meinen, man wird unter Wasser festgehalten und betrachtet, nach Luft ringend, die flimmernden Reflexionen an der Oberfläche, aber von unten. Sie sind schön, die Reflexe, doch will man sie näher betrachten, zieht der Film uns tiefer unter Wasser. Der Druck erhöht sich, und man fürchtet zu ersticken. Das klingt vielleicht faszinierend, schließlich ist es ja ein erstaunlicher Film, der dieses Gefühl erzeugt – aber es wäre unwahr, wenn ich nicht zugeben würde, dass der Vorgang mir auch enorm viel abverlangt hat an Geduld, Neugier, Ausdauer und: Gefühlsdichte.

Bedenkt man noch einmal die Bedeutung, die Döblins Roman in Fassbinders Werdegang und seiner Auseinandersetzung mit Deutschland und den Deutschen einnimmt, erscheint es fast zwangsläufig, seiner Mammutverfilmung den Stellenwert eines Schlüsselwerks zuzuschreiben. Und doch, beim neuerlichen Betrachten, will der Film sich nicht zwängen lassen in die Idee von der Summe aller Teile, will nicht kohärenter Mittelpunkt zwischen all den anderen Teilen eines Lebenspuzzles sein. „Berlin Alexanderplatz“ ist, auch heute noch, ein visueller, konzeptioneller und emotionaler Mega-Steinbruch; ein zuweilen unkonzentrierter, oft gar chaotischer, aber auch immer wieder faszinierender Exzess aus Gewalt, Leidenschaft, Verachtung, Begehren und – ja, irgendwie auch Liebe, ein Film in dem ungeheuerlich geschrien, gelacht, geflennt und gevögelt wird, und der sich nie zu einem Ganzen fügt, nicht fügen will, der gar nicht erst in einer gut formulierten Kiste weggepackt werden möchte, um als Schlüsselwerk auch entschlüsselt im Regal zu stehen.

„Berlin Alexanderplatz“, ein unendlicher Kanon von Erhabenem und Trivialem, bleibt so schließlich zurück als ein Perpetuum mobile des menschlichen Tanzes um Liebe und Tod.

Dies alles in seiner ganzen Zumutung und Wahrhaftigkeit und Schönheit und Scheußlichkeit zu betrachten und zu hören wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und denen es geht wie dem Autor dieses Textes, nämlich vom Kino mehr zu verlangen als nur eine Geschichte.

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