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Ein «Platz», in dem Fassbinder steckt

Wiederaufführung des meisterhaften Zyklus des mit 37 Jahren an seiner exzessiven Lebensführung gestorbenen Filmemachers, ein Filmungetüm des deutschen Fernsehens der 70er, nach Alfred Döblins Klassiker «Berlin Alexanderplatz».

Olivier Seguret

 

Berlin Alexanderplatz von Rainer Werner Fassbinder mit Günter Lamprecht, Karlheinz Braun, Hanna Schygulla, Barbara Sukowa… 15 Stunden. 6 DVDs bei éditions Carlotta (60 €) und Marathonaufführung am 6. und 7.Oktober im Grand Rex in Anwesenheit des Filmteams.

Franz Biberkopf ist ein Name, der gnadenlos, wie ein parasitärer Wurm, unter die Haut geht und einem nicht die Wahl zwischen Liebe oder Hass lässt, der sich, ungeachtet der Gefühle, die man für ihn hegt, hinterlistig einschleicht und einen am Ende vollkommen beherrscht.
Ursprünglich ist es der Name einer Romanfigur, aber die Figur ist so stark, oder die Art ihrer Macht so besonders, dass er sich gleichermaßen in einen emblematischen, mythologischen Namen verwandelt hat, der etwas bezeichnet, das weit über die Eigenschaften und Nicht-Eigenschaften des Helden der Fiktion hinausgeht, in dessen Gestalt er entstanden ist.
Alfred Döblin schenkte ihm 1929 das Leben und zugleich eine Adresse, die inzwischen ebenfalls universell ist: Berlin Alexanderplatz, anders gesagt: im Herzen Berlins, im Herzen Deutschlands, im Herzen der Weimarer Republik. Von heute aus, nachträglich betrachtet, ist 1929 ein schreckliches Datum für die Veröffentlichung eines solchen Romans. Wegen dieses Datums bildet das Buch seitdem eine Art grandioser Rettungsboje vor dem Fall, den es unfehlbar prophezeit.
Die große Wirtschaftskrise, das Aufkommen des Nazismus, der Zweite Weltkrieg: Dies ist die Schwelle, an der Döblin die Feder weglegt, der Abgrund, an dessen Rand der Verlauf seines Romans abbricht…kurz bevor die Leser seiner Zeit hineinstürzen.

Fleischfressende Raserei.

Bei einem Werk mit diesen Eigenschaften war es schicksalhaft, dass Rainer Werner Fassbinder eines Tages mit seiner eigenen riesigen Gestalt dagegen prallte. Absoluter Experte eines Buches, das er als 14jähriger mit hingerissener Begeisterung gelesen hatte und das er fast auswendig kannte, konnte der Mann, auf dessen Schultern nach Aussage Godards das gesamte deutsche Nachkriegskino ruhte, diesem Monument, dem letzten großen literarischen Klassiker vor der Katastrophe, nicht aus dem Weg gehen.
Alles im Material von Berlin Alexanderplatz scheint dazu entworfen zu sein, Fassbinders kraftvollen Röntgenblick magnetisch anzuziehen. Nicht nur die außerordentliche Reduktion der deutschen Gesellschaft, die dort aufscheint und in der der Schöpfer von “Veronika Voss” oder “Maria Braun” nicht umhin konnte, seine eigene Sprache wieder zu erkennen.
Nicht nur der epische Charakter der Figuren, ihre stets zwiespältige und widersprüchliche menschliche Definition, jene Wahrhaftigkeit, die sie nach dem Besten sofort zum Schlimmsten fähig macht – genau so hat Fassbinder stets zu filmen und schreiben geliebt. Nicht nur der gleichermaßen prosaische und universelle Wert der kleinen und großen Lektionen, die vom fruchtbaren Fluss dieser Geschichte transportiert werden… Sondern auch, und vielleicht vor allem, die eindeutige Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen konnte, all dieses Material als Brennstoff für eine Kinoerfahrung zu verwenden, deren gewaltige Ausmaße endlich seinen eigenen entsprechen würden.
Diese Erfahrung ist nun im Wohnzimmerformat erhältlich, dank der Veröffentlichung einer DVD-Box: Das neu abgemischte Werk kann so nun endlich makellos auf den Fernsehschirmen erscheinen, für die es ursprünglich gedacht war (1), und zwar in einem Rhythmus, den wir, die Zuschauer, selbst bestimmen können.
Könnte man sich vorstellen, dass unsere ehrwürdige ORTF (öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalt Frankreichs) mitten in den 70ern Godard “Auf der Suche nach der verlorenen Zeit” anvertraut oder Truffaut mit einer Umsetzung von “Reise ans Ende der Nacht” beauftragt hätte, um hier nur zwei der emblematischsten französischen Romane der Zwischenkriegszeit zu nennen?
Man weiß nicht genau, welchem historischen Glücksfall es zu verdanken ist, dass die damaligen Verantwortlichen des WDR (1979) das unerhörte Wagnis eingingen, Fassbinder damit zu betrauen, “Berlin Alexanderplatz” als öffentlich-rechtliche Fernsehserie zu adaptieren, aber man kann sich sehr gut vorstellen, wie er dieses Ziel mit kampfeslustig gesenktem Kopf in Angriff nahm. Trotz der Auswirkungen der Fernsehproduktion mit einem nur mittelgroßen Budget fühlt man ab den ersten Sequenzen, mit welcher Gewalt der Fassbindersche Wind durch Alfred Döblins Raum fegt und diesen sofort vollkommen verschlingt, ohne das geringste Zeichen von Eingeschüchtertheit oder Zurückhaltung, sondern im Gegenteil mit einer entfesselten fleischfressenden Raserei.
«Das gehört mir !», brüllt der Filmemacher im Angesicht dieses riesigen Materialfundus. Ihm gehört dieser dichte Strauß von Figuren, die von unsichtbaren Fäden zusammengehalten werden, jene Situationen, wo die große Weltgeschichte sich in Metaphern abzeichnet, jene anderen, wo die kleinen Geschichten der lebendige und regelmäßige Pulsschlag der wimmelnden Stadt sind. Ihm gehören jene Gesellschaftscollagen, die extrem neu für die Zeit waren, wo Döblin einige der neuen Errungenschaften des Futurismus erprobte, die er in sich aufgesogen hatte und die Fassbinder übernimmt, als hätte er selbst sie erfunden. Ihm gehören die Kanarienvögel im Käfig, die wächsernen Grammophone, die zwielichtigen Läden, die alkoholgetränkten Tage, die zersprungenen Spiegel, die opulenten Salons, das Quietschen der Straßenbahnen…

Genie der Momentaufnahme.

Nichts entgeht der Dynamik von Fassbinders zügellosem Genie, weder das Detail, noch der Kosmos selbst. Sein Franz Biberkopf ist ein orientierungsloser, gedemütigter, verstümmelter Koloss, ein verstörter Valjean, der manchmal einfach ein naiver Trottel ist, der so sehr von den Frauen geliebt und so oft von den Männern verraten wird, dieser Mann, der mit seinem Bier spricht und der in seinem Verließ strahlt, scheint das Objekt einer leidenschaftlichen Liebe in den Augen seines Regisseurs zu sein, der sich mit einer unglaublichen Selbstverleugnung das gleiche Maß an bösen und guten Schicksalsschlägen aufhalst, das seiner armen Figur widerfährt.
Die Sache wird in zehn Monaten Drehzeit erledigt (vier Wochen vor dem ursprünglich geplanten Zeitpunkt fertiggestellt!), mit 100 Schauspielern und 3.000 Statisten. Das Ergebnis dauert mehr als fünfzehn Stunden, in dreizehn Episoden (einer 81minütigen Einleitung, die als “Pilot” dient, gefolgt von zwölf ungefähr einstündigen Episoden), denen Fassbinder einen fast zweistündigen Epilog eigener Facon hinzufügt. Überall ließ er seine einzigartige Energie einfließen, jene Mischung aus Produktionswut und Drauflosarbeiten, jenes Genie der Momentaufnahme, wo alles auf das Wesentliche beschränkt ist, das sich mit den rein lyrischen Atemstößen eines Kinos der Gefühle abwechselt.
Hier ein brechtsches Bühnenbild, dort ein luxuriöses. Hier eine gesamte Stimmung, die durch eine einfache Lampe und eine bemalte Wand nachempfunden wird, und eine Einstellung später eine Straße und ihre Passanten, die in sorgsamer Kleinarbeit nachgestellt werden.

Kannibalischer Höhepunkt.

Das ist schnell gefilmt und voller Energie, aber manchmal auch fast in Zeitlupe, in jenen eigenartigen Sequenzen, die wie Watte sind und in ein langsames geometrisches Theater zerfallen, in die besonderen Orte, wo sich in der Regel die Liebesdramen abspielen, der Verrat der besten Freunde, und jene Augenblicke leichenblasser Hellsichtigkeit, die den menschlichen Unhold Biberkopf regelmäßig befallen.
Manchmal quietschen die Register : Durch ihr Übereinanderlegen treten Erfolge und Misserfolge umso deutlicher hervor. Doch dies ist vollkommen unwichtig: Die Fortsetzungsroman-Dimension, unser Bedürfnis danach, weiterzugehen und mehr zu erfahren, bleiben davon unberührt. Von seiner Entlassung aus dem Gefängnis, mit der alles beginnt, bis hin zu seiner Unvernunft am Ende lässt uns Biberkopf (der gewaltige Günter Lamprecht) niemals los, und auch Fassbinder lässt Biberkopf niemals los, von dem er übrigens gestand, dass er sich schon immer in ihm wieder erkannt hatte.
Mit dem spektakulären Epilog, den Fassbinder kurzerhand auf das Werk des ehrenwerten Döblin pflanzt, kulminiert dieses Verfahren der Aneignung durch Verschlingen in einem kannibalischen Höhepunkt. Es wirkt, als habe jemand eine glam-trash-Krone auf dem Höhepunkt des Opus festgetackert: Der Filmemacher deutet hier gnadenlos das gerade endende Abenteuer um und befleckt es mit seiner eigenen künstlerischen Schamlosigkeit: Orgien, Alpträume und Blut vor dem Hintergrund von Songs von Leonard Cohen… während eine große Liebesszene zwischen Knastbrüdern Genêt zu zitieren scheint (nur wenige Wochen später nahm Fassbinder “Querelle” in Angriff, den letzten Film vor seinem plötzlichen Tod). Dieser Epilog ist eine ausgesprochene Hölle. Aber als kinematisches Endergebnis ist diese Fernsehserie ein wahres Paradies.

(1) Nichtsdestotrotz lädt Le Grand Rex an diesem Wochenende ein, die Erfahrung einer besonderen Mammutvorführung in Anwesenheit des Filmteams zu machen (Reservierungen über www.legrandrex.com), die anschließend in ganz Frankreich gezeigt wird (Lyon, Strasbourg, Toulouse…).
Übersetzung Frank Weigand

Libération, 3.10.2007

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