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Glückwünsche an Jean-Marie Straub

Bild 2 - recht Seitenbande zu Jean-Marie Straub300Legendäre Fahrt durch die Landsberger Str. war Geschenk an RWF

Am 08. Januar 1933 in Metz geboren, wächst Jean-Marie Straub zunächst französischsprachig auf, wird aber im Zuge der deutschen Besetzung gezwungen, in der Schule Deutsch zu lernen. Nach Kriegsende besuchte er das Jesuiten-Kolleg Saint-Clément und am Ende der Schulzeit ein Jahr ein staatliches Lycée.
1951 begann er in Straßburg ein Literaturstudium, das er von 1952 bis 1954 in Nancy fortsetzte. Während seines Studiums ist er bereits Leiter eines Filmclubs in Metz. Als er 1954 nach Paris zieht, lernt er am Institut des Hautes Études Cinématographiques (I.D.H.E.C.) seine spätere Frau Danièle Huillet kennen – die beiden arbeiten fortan eng zusammen. Er beginnt als Regieassistent von Jacques Rivette bei dessen Kurzfilm LE COUP DE BERGER (1956) und lernt als Hospitant bei Abel Gance, Jean Renoir, Robert Bresson und Alexandre Astruc das nötige Handwerkszeug für die eigenen Filmwerke.

1958 gehen Jean-Marie Straub und Danièle Huillet nach Deutschland und treten 1962 mit ihrem ersten gemeinsamen Kurzfilm MACHORKA-MUFF in Erscheinung, einer Absage an die Remilitarisierung der Bundesrepublik. Bereits dieser Film trifft auf Unverständnis bei Publikum und Kritik und wird darüber hinaus von der Auswahlkommission der IV. Oberhausener Kurzfilmtage abgelehnt. Der gemeinsame Spielfilm NICHT VERSÖHNT…, 1964/65 entstanden und auf dem Roman Billard um halbzehn von Heinrich Böll basierend, führt zu einem Skandal, als er 1965 auf der Berlinale aufgeführt wird. Das breite Publikum lehnt auch in den folgenden Jahren die politisch-kargen Werke des Paares ab. Auseinandersetzungen mit Auftrag- und Geldgebern, Fördergremien und Filmbewertungsstellen sind ebenfalls häufig. So wird Straub und Huillet etwa die Förderung ihres nächsten Werkes CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH versagt, der dennoch 1967 fertiggestellt wird. Erstmals zeigt sich in diesem Film die komplexe Musikdramaturgie, die auch spätere Werke auszeichnen soll. Nichtsdestotrotz findet der Film abermals wenig Anklang bei den Zuschauern, wird aber auf dem Internationalen Filmfest in London als bester Film des Jahres ausgezeichnet. Ende der 1960er Jahre zieht das Paar nach Italien, wo auch der erste Farbfilm der beiden OTHON (1969) nach dem Drama von Corneille entsteht.

Auch in den folgenden Jahren befassen sich Straub/Huillet immer wieder mit der Verfilmung und Bearbeitung literarischer Vorlagen, so etwa 1972 durch GESCHICHTSUNTERRICHT nach einem Romanfragment Brechts oder im Zuge eines Stipendiums in Hamburg mit KLASSNEVERHÄLTNISSE (1983) nach Kafkas „Amerika-Fragment“. 1993 wendet sich das Paar in VON HEUTE AUF MORGEN einer Schönberg-Oper zu. Beide wohnen und arbeiten fortan in Paris, Rom und Hamburg. Danièle Huillet stirbt am 09.10.2006.

Christian Petzold (Regisseur und Autor bei REVOLVER) sagt:
„Dann sah ich LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD. Diese wahnsinnige Fahrt durch die nächtliche Landsberger Straße in München, entlang der Prostituierten des Autostrichs. Die Kameraposition erhöht, keine Augenhöhe, kein Freier ist unterwegs, das Licht streift die Huren und illuminiert sie einen langen Augenblick lang. Das ist Kino. Die Kamerafahrt hat Fassbinder von Jean-Marie Straub bekommen. Sie ist aus dem Film DER BRÄUTIGAM, DIE KOMÖDIANTIN UND DER ZUHÄLTER. Straub hatte in Fassbinders antiteater das Stück von Ferdinand Bruckner inszeniert – was ein Bestandteil des Films ist. Fassbinder spielt den Zuhälter. Bei Straub war die Fahrt mit Musik von Bach unterlegt. Die Huren der Nacht fallen zurück ins Dunkle, wenn Kamera und Licht sie gestreift haben. Bei Fassbinder gab es, glaube ich, keine Musik. Es gab keine Überhöhung. Man hatte den Eindruck, dass es da draußen etwas gibt, vor den Toren der Stadt, eine andere Welt, eine andere Seite, eine Gespensterseite.
Und die wird uns heimsuchen. (In: Der Tagesspiegel, 10.06.2012)

Fotos: © Carine Roth / Cinémathqèue suisse

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