Newsletter Dezember 2024
„Der Mann mit den Eis-Augen“ betitelte die Bild Zeitung am 14. Oktober ihren Artikel zu Udo Kiers 80. Geburtstag. So unverkennbar und markant wie das Aussehen des Schauspielers ist, so schillernd und schwer kategorisierbar ist auch seine Karriere. In der Filmdatenbank IMDb hat er fast 300 Einträge. Seine Karriere kennt weder Genregrenzen, noch Hierarchien zwischen Trivial- und Hochkultur oder Low-Budget und Mainstream. Er war unter anderem in Filmen von Fassbinder, Lars von Trier, Christoph Schlingensief, Dario Argento, Gus Van Sant und Paul Morrissey zu sehen. Und auch wenn seine Rollen häufig kleiner waren, blieben sie doch immer unvergesslich.
Daniel Moersener gratuliert Kier im Filmdienst und bescheinigt ihm „camphaften Glamour“ und „kosmopolitischen Sexappeal“. Kier spiele eine „janusköpfige Doppelrolle im bundesrepublikanischen und internationalen Kino“, stehe einerseits für den Ausbruch aus der Enge der deutschen Nachkriegsgesellschaft, andererseits für die „Wiederkehr des Verdrängten, als permanenter Denkzettel für die in Deutschland so gründlich beschwiegenen Schergen und Helfershelfer des Nationalsozialismus“. Den gesamten Text kann man hier nachlesen: https://www.filmdienst.de/artikel/69355/udo-kier-portrat-zum-80-geburtstag
Passend zum Jubiläum steht in der Arte-Mediathek gerade das neue filmische Porträt DER WUNDERBARE UDO KIER, das man sich hier ansehen kann: https://www.arte.tv/de/videos/118625-000-A/der-wunderbare-udo-kier/
https://www.arte.tv/fr/videos/118625-000-A/udo-kier-dracula-trash-et-dandy-magnetique/
Arte huldigt aktuell auch noch einem weiteren Fassbinder-Star. Ab 18. Dezember ist in der Mediathek die Dokumentation BARBARA SUKOWA – SPIELEN WIE EIN KIND verfügbar. https://www.arte.tv/de/videos/107085-000-A/barbara-sukowa-spielen-wie-ein-kind/ https://www.arte.tv/fr/videos/107085-000-A/barbara-sukowa-une-egerie-du-cinema-allemand/ Bei Fassbinder spielte Sukowa die Mieze in BERLIN ALEXANDERPLATZ (1980) sowie die Titelheldin in LOLA (1981). Beim 35. Hessischen Film- und Kinopreis erhielt sie erst im Oktober die Ehrenauszeichnung. Als Schauspielerin ist sie international nach wie vor gut im Geschäft. Nach Rollen in Filmen von Ben Affleck, Mary Harron und Noah Baumbach dreht sie momentan mit Edgar Reitz.
Am 17. November ging das diesjährige Filmfestival Mannheim-Heidelberg (IFFMH) zu Ende. Auch dieses Jahr verlieh die Internationale Jury wieder den von der RWFF gestifteten, mit 15,000 Euro dotierten Rainer Werner Fassbinder Award für das Beste Drehbuch. Sarah Friedland wurde für ihr Spielfilmdebüt FAMILIAR TOUCH ausgezeichnet, das von einer 80-jährigen Frau handelt, die mit ihrer Demenz und dem Übergang zum betreuten Wohnen ringt. In ihrer per Video zugeschalteten Dankesrede betonte Friedland, wie wichtig ihr Fassbinders ANGST ESSEN SEELE AUF (1974) sei. Weil es darin ebenfalls um die Erfahrungen einer älteren Frau geht, habe sie der Film sogar beim Schreiben des Drehbuchs beeinflusst.
Auf dem IFFMH lief auch ein neuer Dokumentarfilm des spanischen Regisseurs Albert Serra. AFTERNOONS OF SOLITUDE porträtiert den Stierkämpfer Andrés Roca Rey. Lukas Foerster schreibt darüber bei Critic.de: „Die Kämpfe sind […] vorwiegend in Groß- oder Nahaufnahmen gefilmt. […] Im wild entschlossenen, blutverschmierten Gesicht des Mannes, der in diesem Moment […] eine Art Urerfahrung macht, der sich die Menschen unserer Zeit im Allgemeinen nicht mehr stellen, findet der Film sein Zentrum.“ Den gesamten Text kann man hier nachlesen: https://www.critic.de/special/der-rest-ist-rahmung-san-sebastian-film-festival-2024-4715/
Derzeit befindet sich AFTERNOONS OF SOLITUDE noch auf Festival-Tour. Bis der Film einen Verleih findet, kann man sich zum Beispiel Serras experimentellen Kurzfilm CUBA LIBRE ansehen. Der Titel bezieht sich auf den gleichnamigen Drink, der in Fassbinders WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (1971) fleißig konsumiert wird. Der Film – der Teil des 101-stündigen Documenta-Projekts THE THREE LITTLE PIGS (2012) ist – besteht aus einer einzigen Barszene mit Figuren und Motiven, die an Fassbinders Werk angelehnt sind. Streamen kann man ihn für 1,90 Euro auf der Website des Verleihs Filmgalerie 451: https://www.filmgalerie451.de/de/filme/cuba-libre
Am 18. September ist der Filmwissenschaftler und -publizist Klaus Kreimeier verstorben. Nach seiner Zeit als Programmreferent des Hessischen Rundfunks in den 1960ern und einer längeren maoistisch-aktivistischen Phase brachte er zahlreiche Filmbücher heraus; etwa über die Geschichte der UFA oder die Regisseure Akira Kurosawa, Rosa von Praunheim, Fritz Lang und F.W. Murnau.
Als er sich für die österreichische Filmzeitschrift Ray für einen „magischen Kinomoment“ entscheiden sollte, wählte Kreimeier Fassbinders FONTANE EFFI BRIEST (1974), der sich für ihn um die Frage dreht: „Warum geht es nicht, dass Menschen einfach abstreifen, was sie quält und bedrängt, dass sie ihre Fesseln sprengen, sich auflehnen und hinter sich lassen, was sie unterdrückt?“ Den gesamten Text gibt es hier: https://filmgazette.de/2017/06/12/magische-momente-25/
Am 26. November ist die Schauspielerin Karin Baal im Alter von 84 Jahren verstorben. 1956 debütierte sie in Georg Tresslers Jugenddrama DIE HALBSTARKEN und war später auch in Nachkriegsklassikern wie DAS MÄDCHEN ROSEMARIE (1958) DIE JUNGE SÜNDERIN und WIR KELLERKINDER (beide 1960) zu sehen. In seinem Nachruf in der Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht Andreas Kilb Baals Eigenheit in der Mischung aus „Stolz und Verletzlichkeit, Zartheit und Härte“. Der Neue Deutsche Film habe die „ins Fernsehen abgestürzte“ Schauspielerin gerade noch rechtzeitig wiederentdeckt. Anfang der 1980er Jahre stand sie für Wim Wenders, Vadim Glowna, Thomas Brasch und auch drei Mal für Fassbinder vor der Kamera. Zum Nachruf geht es hier: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/karin-baal-gestorben-man-dreht-nur-zweimal-110146741.html
Die kommende Berlinale-Retrospektive „Wild, schräg, blutig. Deutsche Genrefilme der 70er“ widmet sich – anders als der Titel vermuten lässt – weniger dem heimischen Exploitationkino als der Schnittstelle zwischen Neuem Deutschen Film und kommerziellem Kino. Neben Klaus Lemkes ROCKER (1972) und Roland Klicks SUPERMARKT (1974) steht auch Ulli Lommels DIE ZÄRTLICHKEIT DER WÖLFE (1973) über den schwulen Serienmörder Fritz Haarmann auf dem Programm.
Das Darsteller-Ensemble besteht in Lommels zweiter Regiearbeit noch überwiegend aus Fassbinder-Schauspielern wie Kurt Raab, Margit Carstensen, Brigitte Mira und Hans Hirschmüller. RWF selbst war zudem nicht nur am Schnitt und der Produktion beteiligt, sondern übernahm auch eine kleine Rolle. Die Berlinale findet vom 13. bis zum 23. Februar 2025 statt; dieses Jahr zum ersten Mal unter Leitung von Tricia Tuttle. Zur Pressemitteilung des Festivals geht es hier: https://www.berlinale.de/de/2025/news-pressemitteilungen/258248.html DE https://www.berlinale.de/en/2025/news-press-releases/258248.html
Unseren Lesern und Freunden wünschen wir schöne Weihnachten, ruhige Feiertage und einen guten Rutsch in ein friedliches neues Jahr. 2025 melden wir uns wieder mit spannenden Neuigkeiten rund um Rainer Werner Fassbinder.
Mehr zu den Filmen von Rainer Werner Fassbinder:
http://www.fassbinderfoundation.de/filme-von-fassbinder/
Mehr zu den Theaterstücken von Rainer Werner Fassbinder:
http://www.fassbinderfoundation.de/theaterstucke/
Foto links: Udo Kier in IRON SKY: THE COMING RACE (2019) © WDR/Imago/Capital Pictures,
Foto rechts: Plakat für die Retrospektive „Fassbinder: Auf der Suche nach Liebe“ © Goethe Institut Polen