Newsletter September 2024
Das Deutsche Filminstitut & Filmmuseum (DFF) feiert dieses Jahr ein doppeltes Jubiläum: Das Filminstitut gibt es seit 75, das Museum seit 45 Jahren.Das DFF verfügt über eines der größten Filmarchive Deutschlands. 2019 wurde dieses um den Nachlass Rainer Werner Fassbinders ergänzt, den die Fassbinder Foundation der Institution als Dauerleihgabe überreichte.
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) blickt Eva-Maria Magel auf die Geschichte der beiden mittlerweile fusionierten Institutionen zurück und unternimmt eine aktuelle Bestandsaufnahme: Zwar könne man stolz auf die Fortschritte in der Vermittlungsarbeit sein – wozu auch das Filmbildungsprojekt „Encounter RWF“ gehört –, jedoch seien auch die finanziellen Sorgen wegen zunehmender Einsparungen groß (zum Artikel geht es hier: https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/75-jahre-filminstitut-und-40-jahre-filmmuseum-in-frankfurt-19762505.html de)
Wohin der zukünftige Weg des DFF führt, bleibt offen. Nachdem die mehrjährige Leiterin Ellen Harrington das Haus im Juni verließ, ist aktuell Christine Kopf als kommissarische Direktorin im Amt.
Dem Autor Georg Seeßlen wurde dieses Jahr der Lessing-Preis für Kritik verliehen. Die von der Lessing-Akademie verliehene, mit 15.000 Euro dotierte Auszeichnung würdigt Kritik „in einem fachübergreifenden, […] gesellschaftlich wirksamen Sinn“ als „geistig und institutionell unabhängige, risikofreudige Leistung“. Seeßlen widmete sich in seinen Texten über Film, Medien und Politik auch mehrmals dem Kosmos Fassbinders. Das Werk des Regisseurs fasste er einmal in der „Sehnsucht nach einer besseren Welt und nach einem besseren Menschen“ zusammen, mit dem Zusatz, dass die Filme vor allem zeigen, „warum es bei dieser Sehnsucht“ bleiben müsse. (Den gesamten Text gibt es hier: https://www.epd-film.de/themen/rainer-werner-fassbinder-der-wunderbare-spassverderber
Das CulturMag hat die Laudatio von Literaturwissenschaftler Moritz Baßler veröffentlicht. „Wer Pop liebt, kann […] die Kapitalismuskritik […] nicht vollständig von der Leine lassen“, heißt es darin. Doch gerade dieser unauflösbare Widerspruch macht laut Baßler die Größe und Vitalität Seeßlens aus. Dabei gehe es dem Autor in seinen Texten nicht um die „vielen tausend zuvor geschriebenen Seiten“, sondern um das Jetzt. Und auch darum, dass wir als Leser mitreden. „Dafür macht er es ja.“ Hier geht es zur vollständigen Laudatio: https://culturmag.de/crimemag/moritz-bassler-laudatio-auf-georg-seesslen-lessing-preis-fuer-kritik-2024/164342
Am 22. April ist der deutsche Filmemacher Michael Verhoeven verstorben. Nachdem er mit satirischen München-Komödien für den Produzenten Rob Houwer begann, machte er sich später mit politischen Stoffen einen Namen, vor allem mit seinen Filmen DIE WEIßE ROSE (1982) und DAS SCHRECKLICHE MÄDCHEN (1990), die beide Deutschlands NS-Vergangenheit behandeln. Gegen Ende seiner Karriere konzentrierte sich Verhoeven dann stärker auf Dokumentarfilme und Arbeiten fürs Fernsehen.
Bekannt wurde er mit einem Knall. Als 1970 sein Anti-Kriegsfilm O.K. – basierend auf einer Gruppenvergewaltigung einer vietnamesischen Zivilistin durch US-Soldaten – im Berlinale-Wettbewerb lief, spaltete das die Jury, von der einige Mitglieder die Auswahlkommission aufforderten, die Eignung des Films für den Wettbewerb erneut zu prüfen. Unter den Regisseuren, die daraufhin aus Protest ihre Filme zurückzogen, befand sich auch Fassbinder mit WARUM LÄUFT HERR R. AMOK?. Das Festival wurde schließlich – zum einzigen Mal in seiner Geschichte – abgebrochen.
Auch der Künstler Richard Serra verstarb vor einigen Monaten. Bekannt war der Bildhauer für seine überwältigenden, aus industriellen Materialien gefertigten Skulpturen, in die man als Betrachter buchstäblich eintauchen kann. Für den Innenhof des Westfälischen Landesmuseums schuf Serra 1983 die Plastik „Fassbinder I“ sowie die Wandgrafik „Fassbinder II“. In einer Pressemitteilung hieß es damals, „Fassbinder I“ widersetze sich seiner Umgebung. Die Skulptur suche „nicht Harmonisierung, sondern Konfrontation – durch das Material, durch die spröde und reduzierte Form, die lastende Schwere und den Ausdruck der Unverrückbarkeit“. Für Serra waren dies auch die wesentlichen Eigenschaften des titelgebenden Regisseurs.
Heute steht die Skulptur im Innenhof des Bibelmuseums Münster. Auf der Plattform Museumsfernsehen gibt es einen kurzen Film über beide Arbeiten: https://www.museumsfernsehen.de/richard-serras-fassbinder-und-fassbinder-ii-im-lwl-museum-fuer-kunst-und-kultur/
Hark Bohm ist am 18. Mai 85 Jahre alt geworden. Als Regisseur widmete er sich stürmischen jugendlichen Gefühlswelten, am wohl bekanntesten in dem Road Movie NORDSEE IST MORDSEE (1976). Als Drehbuchautor arbeitete er mit Fatih Akin bei den Filmen TSCHICK (2016) und AUS DEM NICHTS (2017) zusammen. Am produktivsten war er jedoch als Schauspieler. Auch in zahlreichen Fassbinder-Filmen stand er vor der Kamera, oft in kleineren Rollen und nicht selten als Arzt oder Polizist. Wie Fassbinder war Bohm 1971 Mitbegründer des Filmverlags der Autoren. In der Audiothek des NDR kann man sich ein längeres Gespräch mit ihm anhören: https://www.ndr.de/kultur/film/Hark-Bohm-Der-norddeutsche-Vater-des-Autorenfilms-,harkbohm110.html
In Berlin gibt es gerade zwei Ausstellungen mit Bezügen zu Fassbinder. In der Neuen Nationalgalerie widmet sich die Schau „Velvet Rage and Beauty“ den körperbetonten, sexuellen und queeren Aspekten im Werk von Andy Warhol. Unter anderem sind dort die erotischen Polaroids zu sehen, die Vorlage von Warhols Filmplakat zu Fassbinders letztem Film QUERELLE (1982) waren. „Velvet Rage and Beauty“ ist noch bis zum 6. Oktober zu sehen:www.smb.museum/museen-einrichtungen/neue-nationalgalerie/ausstellungen/detail/andy-warhol/https://www.smb.museum/en/museums-institutions/neue-nationalgalerie/exhibitions/detail/andy-warhol/
Seit dem 12. September zeigt der Gropius Bau außerdem eine Ausstellung von Rirkrit Tiravanija mit dem aus dem Vorspann von ANGST ESSEN SEELE AUF (1974) geborgten Titel „Das Glück ist nicht lustig“. Tiravanija löst sich in seinen Arbeiten von einem herkömmlichen Werkbegriff, um Räume und Situationen mit offenem Ausgang zu schaffen. Als Betrachter hat man häufig die Möglichkeit, sich an den Aktionen zu beteiligen.
Mehrmals bezog sich der Künstler auf Fassbinders sozialkritisches Melodram. Den Titel ANGST ESSEN SEELE AUF druckte er etwa auf Flaggen, T-Shirts und Zeitungen oder ließ in einer Installation den Film über einen Fernseher flackern. Bereits am Anfang seiner Karriere entwarf Tiravanija in der Arbeit „untitled 1994 (angst essen seele auf)“ (1994) eine Bar, die vom gleichnamigen Film inspiriert war. Ausgeschenkt wurden dort lediglich Bier und Cola – jene Getränke, die der Gastarbeiter Ali und die Witwe Emmi bei ihrem ersten Treffen zu sich nehmen. Die Ausstellung läuft bis zum 12. September. Mehr Informationen gibt es auf der Website des Gropius Baus: https://www.berlinerfestspiele.de/gropius-bau/programm/2024/ausstellungen/rirkrit-tiravanija https://www.berlinerfestspiele.de/en/gropius-bau/programm/2024/ausstellungen/rirkrit-tiravanija
Noch ein Ausblick auf das kommende Filmfestival in San Sebastián, das dieses Jahr vom 20. bis 28. September stattfindet. François Ozons neueste Regiearbeit WHEN FALL IS COMING wird dort ihrer Premiere feiern. Die Handlung dreht sich um eine Großmutter, die mit ihrer besten Freundin in der burgundischen Provinz lebt, bis ein Unfall mit vergifteten Pilzen in die Idylle hereinbricht. Einen ersten Trailer dieses mit unterschwellig brodelnden Konflikten und fragwürdiger Wahrheit spielenden Films gibt es hier: https://www.youtube.com/watch?v=w9sZFbvahl0
Damit wünschen wir unseren Lesern und Freunden einen goldenen Herbst und melden uns vor Weihnachten wieder mit Neuigkeiten rund um Rainer Werner Fassbinder.
Mehr zu den Filmen von Rainer Werner Fassbinder:
http://www.fassbinderfoundation.de/filme-von-fassbinder/
Mehr zu den Theaterstücken von Rainer Werner Fassbinder:
http://www.fassbinderfoundation.de/theaterstucke/
Foto links: Poster für das Vermittlungsprogramm „Encounter RWF“ © Deutsches Filminstitut & Filmmuseum
Foto rechts: Rirkrit Tiravanija, untitled 2010 (angst essen seele auf, frankfurter allgemeine, september 22, 2008) © Rirkrit Tiravanija, Courtesy: der Künstler / neugerriemschneider, Foto: Jens Ziehe