Das Herz des neuen Deutschen Films
Rückblicke auf die Ära Fassbinder
Von Wolfram Schütte
Der Neue Deutsche Film (was von den „Oberhausenern“ geblieben ist und danach kam) besitzt viele Energien. Alexander Kluge wäre seine kombinatorische Intelligenz, Werner Herzog sein athletischer Wille, Wim Wenders seine phänomenologische Wahrnehmungskraft, Werner Schroeter sein Emphatiker der Emotion, Herbert Achternbusch der Rebell seines Eigensinns, und Volker Schlöndorff ist sein Handwerker. Rainer Werner Fassbinder aber wäre das Herz, die schlagende, vibrierende Mitte aller dieser Partialtriebe, dieser je eigenen energetischen Ausprägungen gewesen. Melos und Melodramatik, Emotion und Kalkül, Wahrnehmungssensibilität und handwerkliche Perfektion: im Schnittpunkt dieses Spannungsfelds ist der Ort seines künstlerischen Werks zu finden; es war das Prisma, in dem sich die Arbeiten der anderen brachen. Fassbinder war die dominierende künstlerische Persönlichkeit des Neuen Deutschen Films; weil er auf verschiedene Weise zwischen Avantgarde und Konvention, dem Zentrum und der Peripherie, dem Neuen und dem Alten und zwischen den Medien (Film und Fernsehen und Theater) vermittelte; weil er in alle ästhetischen Bereiche kraft seiner Sensibilität, Intelligenz und Phantasie ausschwärmte und weil er sich in seinen Arbeiten, im Laufe seiner künstlerischen Entwicklung und aufgrund seiner speziellen Tätigkeiten soviel aneignete, in sich einsog und weitergab.
Vor allem aber stand er im Zentrum, als Gravitationsfeld des Neuen Deutschen Films, weil er dessen entschiedenster Erzähler war. Er hinterließ – von LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD bis zu QUERELLE – nicht nur ein Decamerone von Geschichten, Anekdoten, Erzählungen; sondern vor allem eine kaum überschaubare Galerie von Porträts. Er war ein Darsteller, Beschreiber, ein Maler von Menschen, von Charakteren; die Palette seiner Menschendarstellungskunst umfasste alle Farben, sein Interesse richtete sich auf alle Formen menschlicher Existenz, der Fokus seiner Wahrnehmungsfähigkeit und seiner Gestaltungskraft umfasste Alte und Junge, Frauen und Männer – alle Differenzen und Homogenitäten zwischen ihnen. Erst im Rückblick – und vielleicht braucht dieser Blick noch eine größere Distanz, um sich dessen bewusst zu werden – wird man inne, welche Comédie humaine Rainer Werner Fassbinder in seinem Oeuvre hinterlassen hat, wie intensiv seine filmischen Erzählungen von Menschen durchtränkt sind von der Politik, der Geschichte und dem Alltag, den Wechseln und den Kontinuitäten im Lebenszusammenhang Deutschlands – gerade auch dort, wo er das Land und seine Geschichte nicht in paradigmatischen Augenblicken und Menschen – wie z. B. dem HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN oder der EHE DER MARIA BRAUN – sich zu imaginieren versuchte; auch (wenn nicht gerade) solche scheinbar zutiefst persönliche Auseinandersetzungen wie WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE, IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und QUERELLE (oder „Nebenarbeiten“ wie ANGST VOR DER ANGST und ICH WILL DOCH NUR, DASS IHR MICH LIEBT) fallen weder als subjektive Privatissima noch als periphere Fingerübungen aus einem Oeuvre, dessen künstlerisches und geistiges Temperament – so sehr es jeden Stoff prägte – den immer gegenwärtigen Charakter einer zeitgenössischen Zeugenschaft besaß.
Derartig umfassend, in Breite und Tiefe gestaffelt, ist die Bundesrepublik (bis in ihr historisches Vorfeld) in keinem anderen künstlerischen Werk der Nachkriegszeit präsent – mit der einenAusnahme: dem literarischen Oeuvre Heinrich Bölls; und wenn man, unter diesem Blickwinkel, im europäischen Kino Vergleichbares und Verwandtes sucht, so drängen sich einem die cinematographischen Werke Luchino Viscontis, Ingmar Bergmans, Jean-Luc Godards und Claude Chabrols auf; aber nur Filme Andrzej Wajdas besitzen möglicherweise den gleichen – vielleicht sogar deutlicher erkennbaren – Charakter einer zeugenhaften Signatur der nationalen Kultur und Epoche. Während der polnische Regisseur, aufgrund der ganz anderen politischen Kultur seines Landes, sein Werk (eng verbunden mit seinen anderen filmpolitischen Aktivitäten) „repräsentativ“, d. h. zwar nicht im Einklang mit der herrschenden Macht (eher sogar subversiv gegen sie), aber im Bewusstsein nationaler Identität entfalten konnte, ist der paradigmatische Charakter von Fassbinders Oeuvre sowohl gegen den herrschenden Konsens als auch ohne eine politische Identität entstanden. In seinen Filmen hat sich keine Nation erkannt; sie wird aber in ihnen erkannt werden. Der paradigmatische Charakter wächst diesem Werk hinterrücks, im Laufe der Zeit, indem es historisch wird, immer dichter zu.
Fassbinder hat das geahnt und gewusst; und spätestens seit dem HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN hat er über ANGST ESSEN SEELE AUF, MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL, DEUTSCHLAND IM HERBST, DIE EHE DER MARIA BRAUN, DIE DRITTE GENERATION, LOLA und der SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS diese bundesrepublikanische Geschichtsschreibung verfolgt; mit LILI MARLEEN war er in die Nazi-Zeit zurückgegangen, mit BOLWIESER, DESPAIR und BERLIN ALEXANDERPLATZ in die Weimarer Republik; EFFI BRIEST schließlich reichte am weitesten historisch zurück.
Zu diesem Projekt, den Deutschen ihre Geschichte der letzten 100 Jahre zu erzählen und hinter den Fehlentwicklungen der Gegenwart die Spuren der vergangenen, aber immer noch fortwirkenden Irrungen und Wirrungen aufzusuchen, gehörte sowohl seine Adaption von Gerhard Zwerenz’ aktuellem Frankfurt-Roman Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond (zu der ein vollständiges Drehbuch Fassbinders vorliegt, wenngleich Motive davon in SCHATTEN DER ENGEL von Daniel Schmid und in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN eingegangen sind) als auch sein Vorhaben einer dreizehnteiligen Fernseh-Serie nach Gustav Freytags Soll und Haben. Beide Arbeiten kamen nicht zustande.
Dekor und Dingwelt dieser Filme, Kostüme und Alltagsgegenstände konstituieren den historischen Raum – auch bei den Arbeiten mit zeitgenössischen Stoffen (wie DIE DRITTE GENERATION): das sind dann historische Filme in statu nascendi. Was in der Paläontologie „Leitfossilien“ anzeigen, von denen aus das historische Umfeld zu bestimmen ist, prägt das Erscheinungsbild dieser Arbeiten nachhaltig. In FONTANE EFFI BRIEST ist es der Gestus und die Ikonografie der zeitgenössischen Fotografie, im HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN Schlagermusik, in MARIA BRAUN, LOLA und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS sind es Fußball-Reportagen; in IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und der DRITTEN GENERATION ist es die allgegenwärtige Präsenz der modernen (Kommunikations-)Medien: Spielautomaten, Fernsehen, Radio, Video, Computer. Die jeweilige Zeit und das dominante Umfeld der modernen Medien prägt zunehmend die Ästhetik und den Erzählstil dieser Arbeiten; ihre Farbdramaturgie, der Ton, die Kameraperspektive und die Montage wird davon erfasst. Fassbinders Filme über die Nachkriegs- und Adenauerzeit (und ebenso LILI MARLEEN: ein UFA-Film) sind immer zugleich auch objektiv-ironische Imitationen bestimmter zeittypischer Filmstile. Dieser ästhetische Historismus beschreibt den Stoffen und Erzählungen einerseits eine durchgehende künstlerische Distanz ein: als handwerkliche Kunst-Stücke wie als künstliche Produkte; andererseits rekonstruieren solche ‚heutigen’ Filme die Stilgeschichte des filmischen Mediums, um dessen Wirkungsästhetik und „Dramaturgie des Publikums“ (Volker Klotz) – z. B. in LILI MARLEEN – oder deren verlorene Erzähltechniken (z. B. die Blenden in der VERONIKA VOSS) erinnernd vor Augen zu stellen.
Der parabelhafte Realismus etwa von ANGST ESSEN SEELE AUF wird spätestens seit DESPAIR (der ersten Arbeit nach einem fremden Drehbuch) in ein immer komplexeres System mehrfacher ästhetischer Codierungen übersetzt – bis zu QUERELLE, das jede Verbindung zur Produktion des Scheins von Realität kappt und in der totalen Künstlichkeit des Dekors eine rituelle, symbolistische Darstellungsweise ansteuert.
So penibel Fassbinder versucht, die wechselnden historischen Ambientes seiner deutschen Filmgeschichtsschreibung zu rekonstruieren: der genuine Erzähler richtet seinen Blick, sein Interesse an Subtilitäten auf die Menschen, welche in dieser Außenhaut stecken wie in einem Etui; und in den Menschen auf die Dialektik von Psyche und Physis, von Einzelnem und Gruppe, von Außenseiter und Gesellschaft. Es ist eine Geschichte der Gefühle, die er mit Geschichten in der Geschichte aufsucht und aufschreibt; und wenn die Liebe im Zentrum seines Oeuvres steht (immer unter dem Aspekt ihres Scheiterns), so als Utopie einer Sehnsucht, welche auf eine „Heimat“ zielt (nach dem bekannten Wort Ernst Blochs am Ende seines Prinzips Hoffnung), die „allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.“ In Fassbinders Kindheit schien solche Heimat wohl kaum, allenfalls verschattet, als Erfahrung des Mangels, als Leerstelle; oder als Erlebnis, das den Liebenden von dem Geliebten abhängig macht, ein sadomasochistisches Verhältnis stiftet. Wenn Heinrich Bölls literarische Produktivität als „Verteidigung der Kindheit“ (Linder) interpretiert wurde – und in seinem Werk Liebes-Verhältnisse eine ebenso dominante Rolle spielen wie in Fassbinders Arbeiten –, so suchen die Fassbinderschen Helden und Heldinnen in der Liebe nicht die Wiedergewinnung eines verlorenen Kindheitsparadieses, sondern ein „Glücklichsein“, das, nach der Bemerkung Walter Benjamins, „heißt, ohne Schrecken seiner selbst inne werden (zu) können“. In der Unbedingtheit einer Liebesäußerung steckt die Kraft einer fundamentalen Veränderung der Lebensverhältnisse: jeder nähme sich als er selber (für) wahr, und jeder im anderen: den anderen. Der „andere Zustand“ (Robert Musil), den die Utopie der Liebe in Fassbinders Filmen als Ziel einer ungestillten Sehnsucht beschreibt, wäre ein herrschaftsfreier Raum, eine zeitlose Zeit, ein Sprung aus der Geschichte. Antizipationen dieses anarchischen Glücks gibt es einige in Fassbinders Filmen: wenn z. B. Karlheinz Böhm Margit Carstensen leidenschaftlich umarmt und küsst und die Kamerabewegung strudelnd um das Paar kreist (MARTHA); oder wenn Mieze zum erstenmal das Zimmer Biberkopfs betritt (BERLIN ALEXANDERPLATZ). Häufiger jedoch sind die Zeichen des Scheiterns, der Unterdrückung und Ausbeutung, der schließlich vom Liebenden gegen sich selbst gerichteten Gewalt – von HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN über FONTANE EFFI BRIEST, ANGST VOR DER ANGST, ICH WILL DOCH NUR DASS IHR MICH LIEBT, FAUSTRECHT DER FREIHEIT bis zur EHE DER MARIA BRAUN und IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN. Wenn so viele seiner Arbeiten mit Tod oder Suizid enden – sein Werk kennt keine Idyllen, nur Zustände der Euphorie im klinischen Sinne –, so spricht das jeweils herrschende Realitätsprinzip zwar sein Urteil über die Wünsche, die allein nicht helfen; aber: „Nur über die Sehnsucht jedes einzelnen nach etwas anderem kann etwas anderes entstehen« (Fassbinder).
Wilfried Wiegands Annahme, geäußert im Augenblick von Fassbinders ersten Publikumserfolgen, er versuche eine „neue Volkskunst zu schaffen“, hat sich nicht erfüllt. Zwar bedeutete die Bekanntschaft mit dem filmischen Werk Douglas Sirks den Durchbruch zu den eigenen Möglichkeiten, womit ihm „die Angst, auf eine Art und Weise profan zu werden, weggenommen“ wurde. Aber sein gleichlautendes Bekenntnis zu Sirk und zum Hollywood-Film meinte gewiss den Publikumserfolg (ebenso wie eine arbeitsteilige Produktionsweise); jedoch weder die Imitation Hollywoods noch jene zermürbenden Gruppenprozesse, denen er sich (und denen er andere) mehrfach danach aussetzte.
Sirk war „eben nicht, wie man sich Hollywood so vorstellt“; er sei ein „hochgebildeter Europäer, hoch sensibel“. Aber bei Sirk erst sei ihm „klar geworden, dass es absolut möglich ist“, sich der „verlogenen Hollywooder Dramaturgie“ zu bedienen, eine „direkte und unverhohlene Publikumswirkung“ zu erreichen und doch subversive Filme zu machen.
Sirk: das war weder Hitchcock noch Fuller, Ray, Ford oder Hawks; weder Gangsterfilm noch Western, weder Landschaften noch die Kriminalität der Schwarzen Serie; nicht die Kultfiguren, die tough-guys, nicht die großen Mythen des amerikanischen Kinos; sondern: seine banalsten, trivialsten Seiten: das Treibhaus der verdrängten Gefühle, die Versagungen, welche der groß- oder kleinbürgerliche Alltag verlangte. Ehe und Karriere, Geschäft und Liebe, Mikroprozesse der Kommunikation. Das war Fassbinders Domäne. Ein Autorenfilmer wie seine Generationsgenossen, knüpft er doch über Sirk und die tragisch-sentimantalen Stoffe des Melodramas an die abgerissene Tradition des traditionellen Erzählkinos wie kein anderer an. „Sirk hat gesagt, man kann nicht Filme über etwas machen, man kann nur Filme mit etwas machen, mit Menschen, mit Licht, mit Blumen, mit Spiegeln, mit Blut … Sirk hat außerdem gesagt, das Licht und die Einstellung, das ist die Philosophie des Regisseurs“ (Fassbinder). Also weder „Problemfilme“, welche die Redundanz des Erzählens unter das Diktat der übergeordneten Begriffe und der illustrativen Funktion stellen; noch das erbaulich-repressive Melodrama, das im deutschen „Heimatfilm“ der Fünfzigerjahre die bundesrepublikanische Filmszene beherrscht hatte.
Bevor Fassbinder jedoch in die zweite intensive Phase seiner Produktivität gelangte, die mit der BOLWIESER-Adaption einsetzte und bis zu seinem Tod reichte, geriet er in eine Krise. Sie hatte tiefreichende äußere Ursachen: sein letzter Versuch, aus einer existentiellen Gruppensituation heraus zu arbeiten, sein oft geträumter Traum von der „Großfamilie“ scheiterte endgültig. Das Experiment der Mitbestimmung am „Theater am Turm“ wurde weder von der Stadt Frankfurt am Main gebilligt, noch konnte es Fassbinder befriedigen, der wohl vorhatte, mit dem festen Stamm eines Theaterensembles weitere Film- und Fernsehprojekte zu entwickeln. Die öffentliche Kritik an der Theaterarbeit, dann die zwiefache, demütigende Zurückweisung der schon erwähnten Vorhaben, Gerhard Zwerenz’ Frankfurt-Roman und Gustav Freitags Soll und Haben zu adaptieren; schließlich ein drohender Plagiatsvorwurf gegen die Story von MARTHA – : sie lösten in dem beispiellos Erfolgreichen die Panik der Zurückweisung, der Isolation und des künstlerischen Stillstands aus. Nicht nur die Titel, sondern auch die erzählten Geschichten der Filme jener Zeit signalisieren die existentielle Situation: ANGST VOR DER ANGST, ICH WILL DOCH NUR, DASS IHR MICH LIEBT und SATANSBRATEN. In der Tat war er mit dem Konzept seiner einfachen Parabelfilme wie dem HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN und ANGST ESSEN SEELE AUF, denen er dann noch FAUSTRECHT DER FREIHEIT hinterherschickte, an einen künstlerischen Endpunkt gekommen; mit MUTTER KÜSTERS’ FAHRT ZUM HIMMEL und der zynisch-verzweifelten Komödie SATANSBRATEN verteilte er Rundumschläge: gegen ein scheinheiliges, durch die Mediengeilheit verkommenes soziales Gewissen der Linken und gegen die autoritäre Selbstinszenierung eines künstlerisch ausgelaugten ehemaligen Revolutionsbarden. Das waren auch Selbstkasteiungen. Aus diesem öffentlichen und veröffentlichten Purgatorium, einer tiefgreifenden Identitätskrise Fassbinders geht er als jemand hervor, der seine Arbeit nun im Zeichen Antonin Artauds und dessen „Theaters der Grausamkeit“ begreift und wider die gesellschaftliche Rationalität die Partei der unterdrückten Lebensenergien, des kasernierten Lebenswillens und der entgrenzenden Freiheit des Wahnsinns setzt.
Das neu gewonnene künstlerische Selbstbewusstsein führte zu einer Verfeinerung und Vervielfältigung artistischer Möglichkeiten und zu einer größeren Komplexität seines ästhetischen Vokabulars. Es zeigte sich schon in der epischen Ruhe des zweiteiligen BOLWIESER-Fernsehfilms, in den hochartifiziellen Brechungen von DESPAIR (mit dem sein manieristisches Spätwerk einsetzt) und trat dann in Fassbinders Episode zu DEUTSCHLAND IM HERBST als radikalste existentielle Entblößung der eigenen Person, ihrer Ängste und Grausamkeiten hervor. Solche Freiheiten erlaubt sich nur einer, der nichts mehr zu verlieren hat – nur zu gewinnen. Nach dem kommerziellen Welterfolg der EHE DER MARIA BRAUN standen Fassbinder alle Türen offen, seiner produktiven Lust am Erzählen und Experimentieren nachzugehen.
Sein alter Traum, wie in Hollywood zu produzieren, war zweimal zerbrochen; in der WARNUNG VOR DER HEILIGEN NUTTE (1970) hatte er eine erste Negativbilanz gezogen, im SATANSBRATEN (1975/76) eine zweite. Gleichwohl fuhr er fort, in und mit Gruppen zu arbeiten, bezog aber – eben durch seine kontinuierliche, ausgreifende Tätigkeit – zugleich daneben viele andere in seine Film- und Fernseharbeiten ein: Kameraleute, Dekorateure, Kostümbildnerinnen; vor allem aber entdeckte er unbekannte Schauspieler(-innen) für das Kino, verpflichtete Bühnendarsteller (wie Margit Carstensen); und anders als fast alle seine Kollegen vom Neuen Deutschen Film holte Fassbinder eine ganze Reihe von vergessenen Schauspielern und Schauspielerinnen des alten kommerziellen bundesdeutschen Films zurück auf die Leinwand: von Luise Ullrich und Werner Finck (ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG) über Brigitte Mira, Adrian Hoven, Barbara Valentin bis zu Rudolf Platte und Johanna Hofer (VERONIKA VOSS). Er knüpfte dadurch nicht allein menschliche, sondern auch filmhistorische Traditionsbezüge zum Kino seiner Jugend; ebenso pflanzte er seinem Werk durch solche Beschäftigung mit den gleichen Schauspielern Kontinuitätsmerkmale ein; schließlich aber strahlte seine Tätigkeit, die so viele Filmschaffende an sich zog (nicht wenige nur auf Zeit; und manche auf Nimmerwiedersehen auch von sich stieß – wie Hanna Schygulla oder Michael Ballhaus, Kurt Raab oder Irm Hermann), weit in den bundesdeutschen Film hinein, den er dadurch belebt, bereichert und professionalisiert hat. Dass sich im Verlauf seines Schaffens (und besonders ab Mitte der Siebzigerjahre) eine hochqualifizierte filmkünstlerische Infrastruktur in der Bundesrepublik herausgebildet hat, ist nicht zuletzt ein Verdienst Fassbinders. Ebenso sehr aber auch des Fernsehens, des WDR, mit dem Fassbinder viele seiner Arbeiten herstellen konnte. Dort waren es vor allem der Produzent Günter Rohrbach und der Dramaturg Peter Märthesheimer, die Fassbinder Arbeitsmöglichkeiten gaben. Als beide zur Bavaria gingen und die überwiegend fernseheigene „Atelierbetriebsgesellschaft“ zu einer der größten Film- und Fernsehproduktionsstätten in Europa auszubauen begannen, zogen sie Fassbinder mit sich. Geiselgasteig sollte sein Hollywood werden; und er sein Groß- und Starregisseur. Nach der EHE DER MARIA BRAUN hat Fassbinder alle seine großen Filme dort gedreht – außer dem JAHR MIT 13 MONDEN und der DRITTEN GENERATION, die er beide, mangels öffentlicher Unterstützung, in eigener Produktion mit dem Filmverlag hergestellt hat; sein letzter Film (QUERELLE) ist in Berliner Ateliers entstanden.
Sicher hat Fassbinders Verbindung mit Rohrbach und Märthesheimer, der zusammen mit Pea Fröhlich das Drehbuch zur MARIA BRAUN schrieb, einer Tendenz der bundesdeutschen Fernseh- und Filmproduktion die Richtung gewiesen: die Rückkehr des ehemaligen open-air-Films mit dokumentarischer Zeugenschaft ins Atelier; die Herstellung von mehrteiligen Fernsehserien nach literarischen Vorlagen und die Produktion bewusst für den Weltmarkt entworfener Filme. Wie kein anderer besaß Fassbinder die Freiheit, mit diesen Projekten und Kapitalien umzugehen, d. h.: sich seine Stoffe zu wählen; wie kein anderer aber auch die künstlerische Substanz und Kreativität, trotz dieses Wechsels vom low-budgetierten radikalen Autorenfilm zum arbeitsteiligen Industrieprodukt seinen Arbeiten den Stempel seiner künstlerischen Handschrift aufzudrücken. Besitzen seine zwei Eigenproduktionen, die bezeichnenderweise direkte, aktuelle Interventionen sind, ein schärferes Profil, ein zupackenderen Impetus, so arbeitet Fassbinder in seinen „großen Filmen“ nicht minder persönlich – wenn auch vermittelter, indirekter. Denn der späte Fassbinder, am Ende einer Ära, die er bestimmte, hatte zu jener Produktionsmethode gefunden, von der er früher sentimental als Gruppenproduktion träumte; nun erreicht er sie im Team, in der Zusammenarbeit mit Spezialisten wie Rolf Zehetbauer (Dekor), Xaver Schwarzenberger (Kamera), Peer Raben (Musik) und mit Stars wie Franco Nero, Jeanne Moreau oder Brad Davis.
Das umfassendste, episch differenzierteste Kompendium seiner Menschen-Darstellung, der Gefühle und Gedanken, der Wünsche und der Depressionen gelang Fassbinder zweifellos in seinem zugleich intimen wie monumentalen Fresko (nach Alfred Döblins) BERLIN ALEXANDERPLATZ. Der Großstadt-Roman ist einer der Großstadt-Menschen, und wie er später die Sprachphantasmagorie Genets in Dekor, Licht, Farben übersetzt, so lauscht der (Nach-)Erzähler Fassbinder auf die psychischen Unterströme in der Prosa Döblins. Das babylonische Thema wird in die Psyche einer Vielzahl von Personen zurückgenommen – in Gesten und Körpersprache, in Blicke und kontrapunktische Kommentare. BERLIN ALEXANDERPLATZ ist seine persönlichste „Summa“ geblieben.
Rainer Werner Fassbinder war innerhalb des Neuen Deutschen Films ein Autor vom Zuschnitt Balzacs; wie dessen einer ununterbrochenen Produktivität entwachsenes Oeuvre trägt auch seines Züge des Unausgeführten, Misslungenen, bloß flüchtig Hingeworfenen; es ist zugleich sehr persönlich und episch-überpersönlich, inwendig und auswendig, emotional erhitzt und eisig kühl, sentimental und zynisch; von großer Emphase für die Außenseiter und die Opfer und von einer subtilen (auch derben) Faszination für das ästhetische Raffinement. Er hat Stoffe und Themen, die „in der Luft lagen“, mit seiner gereizten Sensibilität gewittert, bevor sie „öffentlich“ wurden; trotz mancher misogyner Züge enthält sein weitgespanntes Werk die vielfältigsten, differenziertesten Frauenporträts des gesamten deutschen Nachkriegsfilms, verkörpert von Hanna Schygulla, Margit Carstensen, Brigitte Mira, Elisabeth Trissenaar und Barbara Sukowa.
Er war kein Regisseur der Weite und der offenen Horizonte, kein Pathetiker der Landschaft oder der Natur; seine Domäne waren die Enge, die Bedrängungen des Dekors, darin Verspiegelungen und Durchblicke, wo er die poetischen Orte des Kammerspiels aufsuchte und den unterdrückten Gefühlen in falschen Gesten (et vice versa) zur Wahrheit ihrer uneingestandenen Wünsche verhalf. Fassbinder war, in seinen historischen so gut wie in seinen aktuellen Arbeiten, ein unnachsichtiger Chronist der menschlichen Verluste und ein Emphatiker der Leiden, welche „der Angstapparat aus Kalkül“ (Fontäne), den er in EFFI BRIEST zitiert, tief in den Einzelnen (Ver-einzelten) hinterlassen hat und welcher noch deren Opfer sadomasochistisch zu eigenen Henkern macht. Er war das schlagende Herz. Es ist nun stillgestellt.
(Zuerst erschienen unter dem Titel „Sein Name: eine Ära. Rückblicke auf den späten Fassbinder“ in: Rainer Werner Fassbinder, Reihe Film 2, Carl Hanser Verlag, München 1983; mit freundlicher Genehmigung des Autors. Copyright: Wolfram Schütte.)