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Newsletter Dezember 2022

Bestenlisten ordnen und hierarchisieren, sie zeugen von einer Leidenschaft fürs Kino und sollten doch nicht zu ernst genommen werden. Eine der wohl berühmtesten Listen dieser Art stammt von der englischen Zeitschrift Sight & Sound und widmet sich alle zehn Jahre der Suche nach den besten Filmen aller Zeiten. Mit über 1600 Beteiligten und damit doppelt so vielen wie noch 2012 wurde diesmal überraschenderweise Chantal Akermans JEANNE DIELMAN, 23 COMMERCE QUAY, 1080 BRUSSELS (1975) an die Spitze gewählt. Die 2015 verstorbene belgische Regisseurin taucht dabei fast vier Stunden in den monotonen Alltag einer verwitweten Mutter und Gelegenheitsprostituierten ein, der schließlich in einem Akt der Gewalt gipfelt.

 

Als die Viennale Akerman 2011 eine große Retrospektive widmete und die Regisseurin zu einer Carte Blanche einlud, wählte sie neben Filmen von F. W. Murnau, Wong Kar-Wai, Alfred Hitchcock, Douglas Sirk und Roberto Rossellini auch ANGST ESSEN SEELE AUF (1974), den bisher einzigen Film Fassbinders, der es selbst in die Sight-&-Sound-Liste geschafft hat. Von der neuen Abstimmung hat er profitiert und rückte von Platz 93 auf 52. Die gesamte Top 100 kann man hier nachlesen: https://www.bfi.org.uk/sight-and-sound/greatest-films-all-time

 

Fassbinder und Akerman schätzten beide die Arbeit des Regie-Duos Straub/Huillet. Nachdem Danièle Huillet bereits im Jahr 2006 verstarb, folgte ihr am 20. November dieses Jahres nun ihr langjähriger Partner Jean-Marie Straub. Nach zahlreichen gemeinsamen Arbeiten, die mit ihrer radikal strengen und oft antiillusionistischen Ästhetik nicht selten für Irritationen sorgten, verwirklichte Straub bis zu seinem Tod noch zahlreiche Filme mit Barbara Ulrich.

 

In seinem Nachruf in der Süddeutschen Zeitung beschreibt Fritz Göttler, wie Straub/Huillet ihre literarischen Vorlagen nicht als intellektuelle Gebilde begreifen, sondern als Körper, die sie „klingen und atmen“ lassen: „Sie schreiben die Passagen ab und skandieren sie mit verschiedenen Farben, schon in diesen ‚Scripts‘ ist das Leben der späteren Filme präsent. Wochenlang arbeiten sie mit den Darstellern, meistens Laien, aber auch wenn sie Profis dabei haben, ist die Lust an den Texten gewaltig.“ Den gesamten Artikel gibt es hier: https://www.sueddeutsche.de/kultur/jean-marie-straub-nachruf-1.5699575

 

Fassbinder stand in Jean-Marie Straubs frühem Kurzfilm DER BRÄUTIGAM, DIE KOMÖDIANTIN UND DER ZUHÄLTER (1968) neben Irm Hermann, Hanna Schygulla und Rudolf Waldemar Brem vor der Kamera. Sein eigenes Langfilmdebüt LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (1969) widmete er nicht nur Straub, sondern verwendete auch eine Kamerafahrt aus besagtem Kurzfilm. Der Regisseur Christian Petzold sagte über diese Szene später: „Diese wahnsinnige Fahrt durch die nächtliche Landsberger Straße in München, entlang der Prostituierten des Autostrichs. Die Kameraposition erhöht, keine Augenhöhe, kein Freier ist unterwegs, das Licht streift die Huren und illuminiert sie einen langen Augenblick lang. Das ist Kino.“

 

Erst vor Kurzem wurde bekannt, dass bereits im Sommer der deutsche Schauspieler Rainer Will verstarb. Bevor er später vor allem in Theater- und Fernsehproduktionen auftrat, debütierte er in Ulli Lommels DIE ZÄRTLICHKEIT DER WÖLFE (1973) und WACHTMEISTER RAHN (1974). Bei Fassbinder übernahm er kleine Rollen in BERLIN ALEXANDERPLATZ, LILI MARLEEN (beide 1980) und LOLA (1981). In einem kurzen Nachruf bei nachtkritik.de heißt es: „Sein Blick auf die Bühne und hinter die Kulissen zeugte von Humor, von scharfer Beobachtung, auch von Illusionslosigkeit. Aber es war kein kalter Blick, sondern ein liebender.“ Zum Text: https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=21785:der-schauspieler-rainer-will-ist-gestorben&catid=126&Itemid=100890

 

Am 27. November ging das 71. Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg zu Ende. Zum dritten Mal wurde dort der mit 10.000 Euro dotierte, von der RWFF gestiftete Rainer Werner Fassbinder Award für das beste Drehbuch vergeben. Die Jury um Christoph Bach, Antoinette Boulat und Mohsen Makhmalbaf zeichnete dieses Jahr das Kriminaldrama ASHKAL des tunesischen Regisseurs Youssef Chebbi aus. Eine lobende Erwähnung bekam zudem der US-amerikanische Independentfilm THE MAIDEN von Graham Foy. Alle Preisträger des Festivals stehen hier: https://www.iffmh.de/news-archiv/preisverleihung-2022/index_ger.html

 

Im Rahmen des Vermittlungsprogramms „Encounter RWF“ präsentierte das Berliner Wolf Kino im November und Dezember die Filmreihe „Political Fassbinder“. Eine überwiegend jüngere Generation von Filmschaffenden stellte dort Regiearbeiten RWFs vor, um sie aus heutiger Sicht zu betrachten. Neben Regisseuren wie Julian Radlmaier, Ted Fendt, Burhan Qurbani und Susanne Heinrich war auch RWFF-Präsidentin Juliane Maria Lorenz unter den Filmpaten. Bei RBB Kultur gibt es ein kurzes Radiointerview mit der Kuratorin Brigitta Wagner:

https://www.rbb-online.de/rbbkultur
radio/programm/schema/sendungen/der_tag/archiv/20221105_1000/kultur_
aktuell_1010.html

 

Zum Abschluss ein Veranstaltungstipp: „Hof bleibt doof, da helfen keine Filme“, soll Fassbinder sich einmal wenig schmeichelhaft über das dortige Festival geäußert haben. Bis zum 6. Januar gibt es im Festsaal-Foyer der Hofer Freiheitshalle eine Ausstellung mit Fotos von Michael Friedel. Unter dem Titel „Fassbinder, Schygulla, Ballhaus“ sind überwiegend Porträtaufnahmen zu sehen, oder wie es im Programmtext heißt: „München, Feldkirchen, Rom – die Orte sind Hintergrund. Das Eigentliche sehen wir in den Gesichtern.“ Mehr zur Ausstellung: https://www.hof.de/news/freiheitshalle-hof-fassbinder-schygulla-ballhaus-fotos-von-michael-friedel

 

Damit verabschieden wir uns in die Winterpause und wünschen unseren Lesern und Freunden beste Gesundheit, ruhige Weihnachtsfeiertage und einen guten Rutsch. Wir melden uns im neuen Jahr wieder mit Neuigkeiten rund um Rainer Werner Fassbinder.

 

 

Mehr zu den Filmen von Rainer Werner Fassbinder:
http://www.fassbinderfoundation.de/filme-von-fassbinder/

Mehr zu den Theaterstücken von Rainer Werner Fassbinder:
http://www.fassbinderfoundation.de/theaterstucke/

 

Foto links: Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets  KLASSENVERHÄLTNISSE (1984) © Edition Filmmuseum
Foto rechts: Cover von Michael Friedels Bildband „R.W. Fassbinder Hanna Schygulla“ © Leica Galerie Verlag Frankfurt

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