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Rückkehr nach “Berlin Alexanderplatz”

Fassbinders großartiger Film als restaurierte Kopie und auf DVD

 

Thomas Sotinel

Ein Wochenende mit Franz Biberkopf? Warum nicht? Er verträgt mehr Alkohol als Raskolnikov und kennt mehr lustige Geschichten als Jean Valjean. Biberkopf ist die zentrale Figur von “Berlin Alexanderplatz”, der Odyssee eines armseligen Menschen in der Hauptstadt der Weimarer Republik, 1929 von dem vom Arzt zum Romancier gewordenen Alfred Döblin zu Papier gebracht und 1980 von Rainer Werner Fassbinder auf die Leinwand gehoben.

Der Film dauert mehr als fünfzehn Stunden, und es werden zwei Aufführungstage nötig sein, der 6. und 7. Oktober, um ihn im Pariser Grand Rex vollständig zu sehen. Diese Aufführung, der andere in ganz Frankreich folgen werden, fällt mit der Veröffentlichung von “Berlin Alexanderplatz” auf DVD zusammen.
Im Rex wird man auf sehr großer Leinwand den selten gesehenen Höhepunkt von Fassbinders Kino sehen: ein monumentales, tragisches Werk mit brutaler Einfärbung.
Auf 16mm gedreht, wurde “Berlin Alexanderplatz” durch die Bemühungen der Fassbinder Foundation restauriert, die von Juliane Lorenz geleitet wird, die Cutterin des Films und Fassbinders Gefährtin der letzten Jahre war.
1980 entdeckten die westdeutschen Zuschauer den Film Woche für Woche auf ihrem Fernsehschirm, bis am Silvester-Vorabend der fast zweistündige Epilog Fassbinders Lesart von Alfred Döblins Roman in einer Orgie halluzinatorischer Bilder (Kreuzigung, Menschen, die zum Schlachthof geführt werden, Straßenschlachten) beschloss.
Vermutlich war Schmuggel im Spiel, als der damals 34jährige Regisseur auf dem Gipfel seines Ruhms dem öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehen nicht eine Fortsetzungsgeschichte, sondern einen “Film in dreizehn Teilen und einem Epilog” lieferte.
Das deutsche Fernsehen, die italienische RAI und die Bavaria-Studios hatten 13 Millionen Mark aufgebracht (die damals ungefähr 40 Millionen Franc entsprachen), damit Fassbinder ein Projekt verwirklichen konnte, das ihn schon lange beschäftigte. Als Jugendlicher hatte Fassbinder in Döblins Roman einen Rettungsanker gefunden: “Zu dieser Zeit,” schrieb Fassbinder später in einem in der Tageszeitung “Die Welt” veröffentlichten Text, “reduzierte ich Döblins Roman – natürlich indem ich ihn allzu simpel auslegte – auf meine eigenen Probleme und las ihn als die Geschichte zweier Männer, deren kleines bisschen Leben auf dieser Erde zerbricht, weil sie nicht die Möglichkeit haben, den Mut aufzubringen, anzuerkennen, ja sogar sich selbst einzugestehen, dass sie einander auf eine seltsame Art und Weise begehren und lieben.”

Ein Perverser und sein Opfer

Diese beiden Männer, das sind Biberkopf, der Arbeiter, der 1928 nach vier Jahren Gefängnis für den Mord an seiner Frau entlassen wird und schwört, ein ehrliches Leben zu führen; und Reinhold, der perverse Ganove, der hartnäckig alle Chancen Biberkopfs durchkreuzen wird. Bei der Suche nach einer Verkörperung des Opfers fällt Fassbinders Wahl auf Günter Lamprecht, einen Berliner, mit dem er bereits gearbeitet hat. 1930 geboren hat Lamprecht Döblins Berlin gekannt; er nötigt dem Regisseur schließlich Dialoge auf, die dem Berliner Slang näher sind, als diejenigen, die der Bayer Fassbinder geschrieben hatte.
“Eines Tages”, erinnert sich Lamprecht, “während wir an Originalschauplätzen in Berlin drehten, brachte mich Fassbinder in eine Bierkneipe, wo ich vor zwei Krügen Bier und einem Glas Schnaps einen Monolog spielen sollte, und ich erkannte das Etablissement wieder, wo mein Vater früher trinken ging.”
Wer Lamprechts hypnotische Wirkung in dieser Sequenz sieht, käme nie darauf, dass sie in einer einzigen Einstellung gedreht wurde – ein Arbeitsprinzip, das Fassbinder durchgesetzt hatte. Die Dreharbeiten zwischen den West-Berliner Originalschauplätzen (die DDR hatte die Erteilung einer Drehgenehmigung verweigert) und den Münchner Studios, die ursprünglich ein Jahr lang dauern sollten, enden schließlich vier Wochen früher als geplant. Am Set ist Fassbinder hochkonzentriert. “Er war vollkommen normal”, erinnert sich Juliane Lorenz. “Von 254 Drehtagen war er nur zweimal abwesend.”
Fassbinder wählte Gottfried John für die Rolle des Reinhold aus und vertraute die weiblichen Hauptrollen der langjährigen Mitstreiterin Hanna Schygulla und einer Neuankömmlingin, Barbara Sukowa, an. Diese Mischung aus Getreuen und Neulingen findet sich auch auf der anderen Seite der Kamera wieder: Xaver Schwarzenberger folgt auf den nach Hollywood abgewanderten Michael Ballhaus, während der getreue Peer Raaben eine Musik komponiert, die die unterschiedlichsten Elemente vermengt – von der Straßenromanze bis hin zur provozierenden Dissonanz.
Bei seiner Ausstrahlung stieß der Film die Leute vor den Kopf und zog den Sarkasmus der Zeitungen der Springer-Gruppe auf sich. Fassbinder ist das herzlich gleichgültig. Er dreht noch “Lola”, “Die Sehnsucht der Veronika Voss” und “Querelle”, bevor er 1982 im alter von 37 Jahren stirbt.
Seitdem ist “Berlin Alexanderplatz”, der selten im Fernsehen läuft, und wenn, dann meist zu unmöglichen Uhrzeiten, und noch seltener auf der großen Leinwand (dennoch kam der Film 1983 in New York in die Kinos), zu einer Legende geworden. Die neu restaurierte Fassung wurde bei der letzten Berlinale gezeigt. Drei Monate später warf eine Gruppe ehemaliger Fassbinder-Mitarbeiter – allen voran Ingrid Caven – der Stiftung vor, die Farben und das Licht des Filmes zu stark herausgearbeitet zu haben und stellte die Verwaltung von Fassbinders Erbe durch Juliane Lorenz in Frage. Diese jedoch begnügte sich mit dem Hinweis darauf, dass die Restaurierung unter der Leitung von Schwarzenberger , dem Kameramann des Filmes, geschehen sei.

Le Monde, 6.10.2007

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